Als Redner für den „Goldenen Abiturjahrgang 1957“ hatte sich Wilhelm Voßkamp (Universität zu Köln) gefunden.
Es folgt seine Rede auf der Entlassungsfeier des Abiturjahrgangs 2007:
Abitur 1957-2007
Die Ehre, hier in meiner alten Schule, vor Ihnen sprechen zu dürfen, bedeutet Vergnügen und Herausforderung zugleich. Denkt man als Angehöriger des Abiturjahrgangs 1957 über den Einschnitt, den das Abitur unter lebensgeschichtlichen Gesichtspunkten noch immer bedeutet, nach, so möchte ich (in der gebotenen Kürze) im folgenden über drei Aspekte sprechen: über `unser´ Abitur (das heißt der hier versammelten Ehemaligen) im Horizont der Gegenwart über die Zäsur, die das Abitur noch immer unter vielen Gesichtspunkten darstellt und über die Frage „Was bleibt?“ , wenn man an die Schule nicht nur im Zeichen schöner Erinnerungen denkt, sondern auch im Blick darauf, was sie in Zukunft für die jetzigen Abiturienten und Ehemaligen bedeutet.
I.
Für Sie, liebe gegenwärtige Abiturientinnen und Abiturienten, kann der Abstand zu meinem Abiturjahrgang 1957 nur eine historische Dimension haben, die nachzuvollziehen ebenso schwierig sein mag wie das Erinnern irgendeines anderen fernliegenden historischen Ereignisses. 1957 heißt: Sich zu erinnern, dass Thomas Mann erst 1952 aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückkehrte und dass erst 1955 die noch zurückgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Hause kamen. 1956 fehlte es noch an Kohlen, um unsere Schule heizen zu können. Für meine Mitschüler und mich waren der Zweite Weltkrieg und die Zeit danach noch so präsent wie sie heute Geschichte geworden sind. Wie unmittelbar die Geschichte des Nationalsozialismus gegenwärtig war, erfuhren wir beispielsweise anlässlich unserer Klassenfahrt in die Niederlande, als wir in Rotterdam eine neue, wieder aufgebaute Stadt erblickten, die zuvor von der deutschen Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht worden war. Bis dahin hatten wir den Bombenkrieg nur über den deutschen Städten in Erinnerung.
Im Horizont der Gegenwart hat die aktuelle Geschichte heute eine völlig andere Kontur. Sie ist geprägt durch eine universelle Medienrevolution im globalen Maßstab mit jetzt noch unabsehbaren Folgewirkungen. Nichts prägt unsere Lebenswirklichkeit stärker als die Möglichkeiten der digitalen Medien mit einer Dominanz der Bilder in allen Bereichen. Schnelllebige Sinnangebote über das Internet, Talkshows und Lifestyle-Berichte setzen die und den einzelnen in einer Weise unter einen Auswahl- und Beschleunigungsdruck, den es bisher nicht gegeben hat. Diese geradezu unendlichen Möglichkeiten sind ebenso stimulierend wie beunruhigend, weil überlieferte Verhaltenskonventionen und Verkehrsformen wie noch in den 50er und 60er Jahren nicht übernommen werden können und erst neue, angemessene zu entwickeln sind.
Schulen und Hochschulen sind durch diese Situation charakterisiert; man kann es an spezifischen `Nervositäten´ und Zerstreutheiten ablesen. Schulen wie Universitäten haben gegenwärtig in vielen Bereichen an Präge- und Überzeugungskraft eingebüßt, so dass dem einzelnen noch mehr aufgebürdet wird. Wie geht man damit um? Gibt es Hinweise, dennoch Persönlichkeit und Charakter zu entwickeln und zu stärken?
Hier möchte ich über ein Glück berichten, das unserer Abiturklasse, der 13 m, zu Teil wurde. Ich spreche von Otto Papenhausen, unserem hoch verehrten Klasssenlehrer, dessen Persönlichkeit nicht nur durch fachliche Professionalität, sondern durch menschliche Integrität vorbildlich war. Ein Lehrer, dessen Beispielhaftigkeit an Genauigkeit, Strenge und Gerechtigkeit ebenso im lebendigen Gedächtnis bleibt wie sein Verständnis der einzelnen Schüler in ihrer Eigenart. In einer Zeit als es noch keine Elternversammlungen gab, kümmerte sich Otto Papenhausen um den Kontakt zu den Eltern oder zu den Müttern derjenigen Schüler, deren Väter im Krieg gefallen waren. Zu den herausragenden Eigenschaften dieses Lehrers gehörten seine Geduld und die Fähigkeit, sich korrigieren zu lassen: das heißt, Schüler als Persönlichkeiten ernst zu nehmen.
Förderung von Begabungen ist die eine Seite, Erkennen der Besonderheit von Charakteren eine noch viel wichtigere. Dass es solche Lehrerinnen und Lehrer in Ihrer (und unserer) Schule auch heute gibt, davon bin ich überzeugt, und sie sind es, die den nötigen Mut vermitteln, sich als eigenes Selbst zu entwickeln, auszubilden und zu vervollkommnen.
II.
Wenn die Schule in manchen Feldern ihre Prägekraft (und damit auch ihre gesellschaftliche Anerkennung) heute an andere Instanzen hat abgeben müssen, was bedeutet dann das Abitur? Vielleicht ist es gut, sich an die Wortbedeutung zu erinnern. Das Wort „Abitur“ heißt Abreise; „abire“ – weggehen, oder, in der passiven Form, „man geht weg“. In der Tat bleibt das Abitur eine Zäsur, ein Einschnitt, den man lebenslang in Erinnerung behält, weil er einen überschaubaren Lebensabschnitt beendet und einen neuen eröffnet, der weitgehend unbestimmt ist. Unbestimmt auch deshalb, weil die Institution Schule, die man verlässt, künftig durch Institutionen eingetauscht wird, die – ob im Beruf oder in der Universität – eher unübersichtlich sind. An der „Massen“-Universität etwa ist das Leben bis in die Examensphase entschieden weniger an und auf Personen orientiert als das noch in der Schule möglich war. Eine andere, diffuse Lernkultur empfängt den Studenten, wenn er unsere Universitäten betritt. Ein in der Schule begonnener Lernprozess wird nach dem Abitur eine neue Form annehmen müssen und bei allem verbreiteten Pragmatismus wird es darauf ankommen, sich nicht immer neuen, schnell wechselnden Angeboten auszusetzen, sondern auf Kontinuität zu setzen. Ohne Charakterfestigkeit lassen sich voraussehbare Rückschritte und zu überwindende Misserfolge nicht bewältigen. Vertrauen Sie auf die Offenheit Ihrer eigenen Zukunft, denn das ist das Privileg der Jungen; wie es der Schriftsteller Georg Klein vor kurzem formuliert hat: „Zum Jungsein gehört das Vermögen, sich die kommende Lebenszeit als etwas Lustvoll-Ungewisses imaginieren zu können. Diese Lust darf auch Angstlust sein. Der eigentümliche Mut, mit dem die Jungen in die Zukunft blinzeln können, wird nicht dadurch geschmälert, dass sie an manchen Tagen auf recht weichen Knien und meist ohne jeden klaren Plan durch die Landschaft der Gegenwart stapfen. Der Mut der Jugend muss ohne hinreichende Erfahrung auskommen, und so ist sein Vorwärts der Kühnheit oft näher als der Tapferkeit“. Lassen Sie sich nicht durch jene Erwachsene irritieren, die nur noch an die Sicherheit ihrer „Lebensrestzeit“ denken und dadurch junge Menschen eher entmutigen als ihnen Mut zu machen!
III.
Was bleibt? Wenn man die Schule verlässt – und das wird allen, den Ehemaligen und gegenwärtigen Abiturienten ähnlich ergehen, blickt man mindestens mit Melancholie, vielleicht auch mit Enttäuschung, sicher aber auch mit Dankbarkeit an bestimmte Lehrer auf die vergangene Schulzeit zurück. Die Hoffnung, die Sehnsucht auf das Neue wird allerdings immer stärker sein. Zu Recht, und das ist auch heute angesichts einer durchaus verständlichen Angst vor beruflicher Unsicherheit, die manche hochgesteckten Wünsche und Erwartungen wird enttäuschen müssen. Dennoch bleibt der einzelne – wie Johann Gottfried Herder es am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert hat – sein eigener Schöpfer. „Du selbst bist, was aus allem du dir schufst und bildetest und warst und jetzo dir bist, dein Schöpfer selbst und dein Geschöpf“. Dieses Selbst bleibt es zu entwickeln und zu stärken, in einem dauernden Wechselspiel von Ich und Welt, das lebenslang trainiert werden muss. Die Schule hat dafür die Weichen gestellt; nach dem `Abschied von der Schule´ geht es weiter um diese Wechselwirkung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten. Wissenserwerb und Wissensanwendung ist dabei nur die eine Seite – lebenslange Selbstbildung und das Sich-Öffnen gegenüber neuen Horizonten die andere.
Deshalb ist mein Wunsch, dass sich alle, Jüngere und Ältere, immer wieder einmal an Hermann Hesses 1942 entstandenes Gedicht „Stufen“ erinnern:
„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt, und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde,
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohl an denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“