Die Anfänge der Schule

Angesichts der heftigen Kontroversen, die der Gründung dieser Schule im Jahre 1867 vorausgehen beziehungsweise sie begleiten, fällt es nicht leicht, den historischen Rahmen abzustecken, in dem dies alles sich vollzieht, denn die Errichtung dieser „Realschule 2. Ordnung“, wie es zunächst heißt, fällt ja in eine Epoche, die für die Zeitgenossen mit Blick auf den deutschen Einigungsprozeß in hohem Maße brisant ist, und er vollzieht sich zudem in einem Gemeinwesen, dessen konfessionelle Struktur seit der Reformationszeit Anlaß zu tiefen Spannungen innerhalb der Bevölkerung gibt, Vergegenwärtigen wir uns: 1867 ist das Jahr, in dem der Norddeutsche Bund gebildet wird. Es ist das Jahr, in dem die Annexion des Königsreichs Hannover und damit auch der Stadt Osnabrück durch Preußen erst wenige Monate zurückliegt. Es ist das Jahr, in dem manchem Bürger wohl erst die Tragweite des ein Jahr zuvor Geschehenen aufgeht, wenn überhaupt: Sieg Preußens über Österreich, Ende des hundertjährigen Dualismus zwischen beiden Großmächten, vor allem aber Ende des jahrhundertelangen Einflusses des katholischen Hauses Habsburg auf die Reichsgeschichte. Stattdessen Bildung eines Bundes, der nördlich der Mainlinie Zweidrittel des späteren Zweiten Deutschen Kaiserreiches unter Führung des protestantischen Herrscherhauses der Hohenzollern mit der Hauptstadt Berlin umfaßt.

Allerdings erfaßt mancher Zeitgenosse die Bedeutung des bei Königgrätz am 3. Juli 1866 errungenen Sieges der preußischen Armeen unmittelbar, unter ihnen der damalige Kardinalstaatssekretär des Vatikans, gewissermaßen dessen Außenminister, Giacomo Antonelli. Dieser reagiert äußerst betroffen auf die Schreckensnachricht von der Niederlage Österreichs, indem er ausruft: „Casa il mondo!“ – Die Welt stürzt ein![1]Antonelli meint ganz offensichtlich, daß der Triumph des protestantisch geprägten Preußens über die Schutzmacht der katholischen Kirche, über die apostolische Majestät, einer Katastrophe gleichkommt, womit er aus seiner Sicht gewiß recht hat.

Wie anders hingegen die Reaktion vieler Osnabrücker, die in den Monaten nach dieser denkwürdigen Schlacht regelrecht um Aufnahme in den preußischen Staatsverband bitten – ähnlich wie Ostfriesland -, noch ehe die Annexion Hannovers durch Preußen endgültig beschlossen ist! Ein bemerkenswerter Vorgang, bedenkt man einerseits die Animosität des Welfenhauses gegenüber Preußen und andererseits die Tatsache, daß das Fürstbistum Osnabrück seit dem Westfälischen Frieden 1648 eine Reihe evangelischer Bischöfe aus dem Welfenhaus kennengelernt hatte.

Wie also ist dieser Vorgang zu erklären? Lembcke nennt in seiner Arbeit als Ursachen für die Reserve gegenüber Hannover folgende Aspekte: zweimaliger Verfassungsbruch der Krone, Einrichtung einer königlichen Polizeidirektion in der Stadt und Nichtbestätigung gewählter Magistratsmitglieder. Der Autor spricht überhaupt von einem „Antihannoverismus“ der Osnabrücker, nachdem 1813 das Fürstbistum seine Eigenstaatlichkeit verliert und die städtischen Hoheitsrechte beschnitten werden. Hinzu kommt wohl auch das Befremden des evangelischen Bevölkerungsteils darüber, daß das Welfenhaus 1857 die Wiederherstellung des Bistums Osnabrück, das 1803 im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses säkularisiert worden ist, mit ermöglicht.

Was letzteres für das gespannte konfessionelle Klima in der Stadt bedeutet, zeigt gerade auch der Kampf um die Neugründung einer simultanen, das heißt beiden Konfessionen offenstehenden Bildungsanstalt, um die es hier vornehmlich zu gehen hat, Die führenden Schichten des Bürgertums sind liberal gesonnen, schließlich auch national. Kein Wunder also, daß als Nachfolger des konservativen, eher ruhigen Stüve der selbstbewußte, der liberalen Bewegung verbundene Johannes Miquel, damals erst 37 Jahre alt, zum neuen Bürgermeister gewählt wird, und zwar am 12. Januar 1865. Es fällt nicht allzu schwer, sich vorzustellen, welche Reaktion diese Wahl in den bischöflichen Kanzleistuben ausgelöst haben wird. Denn erst wenige Wochen zuvor war zusammen mit der Enzyklika „Quanta cura“ ein Katalog von 80 Zeitirrtümern hinsichtlich der Säkularisierung des geistigen und politischen Lebens erschienen. Dieser Syllabus errorum richtet sich unter anderem auch gegen den Liberalismus, wie überhaupt Papst Pius IX. (1846-1878) liberalen und demokratischen Ideen höchst ablehnend gegenüberstand. Nicht von ungefähr fällt in die Amtszeit dieses Papstes auch das umstrittene Unfehlbarkeitsdogma.

Festzuhalten ist jedenfalls, daß viele Osnabrücker, darunter durchaus auch moderner eingestellte Katholiken, den ortsfremden Miquel begeistert empfangen. Zahlreiche Häuser zeigen sich bei dessen Ankunft sogar in schwarz-rot-goldenem Flaggenschmuck. Wie würde dieser neue Mann eine Stadt leiten, deren mittelalterlicher Kern kaum verändert ist, deren Wälle und Gräben noch bestehen, die im Grunde eine kleine Landstadt ist, noch kaum berührt von der industriellen Entwicklung?

JOHANNES MIQUEL, aus hugenottischer Familie stammend, in der Grafschaft Bentheim am 19. Februar 1828 geboren, studiert in Göttingen Jura; als radikaler Republikaner steht er 1848 eine Zeitlang sogar Marx nahe, wendet sich jedoch in den Folgejahren immer mehr der liberalen Bewegung zu und tritt neben seiner Tätigkeit als erfolgreicher Anwalt in Göttingen als Gegner der hannoverschen Regierung hervor. Seine Schuljahre verbringt er am Gymnasium Georgianum in Lingen, einer gemischt konfessionellen Schule. Da er einer Mischehe entstammt – Vater katholisch, Mutter streng reformiert – und in einer konfessionell gemischten Landschaft aufwächst, sind ihm die damit verbundenen Probleme vertraut. Gerade in Osnabrück liegt ihm daran, den Blick zu öffnen für die Probleme der Zeit und Abstand zu gewinnen von einer – wie er sie empfindet – noch immer viel zu starken Einflußnahme der Kirchen auf die Gemüter. So tritt er als echter Liberaler deutlich für eine Trennung von Kirche und Staat ein und sieht in einer Simultanschule die einzig wünschenswerte Schulform überhaupt. Hinzu kommt seine Überzeugung, daß auch viele soziale Probleme der Zeit einer Losung näherrücken, wenn die Bildungsmöglichkeiten für die Bevölkerung erweitert würden.

„Ich habe von Jugend auf gekämpft für die Besserung der Schulen“, so Miquel im September 1873 in einer Wahlrede in Osnabrück, eine Aussage, die aus seinem Munde gewiß keine Redewendung ist, sondern mit Blick auf die von ihm angestoßene Reform des Schulwesens in dieser Stadt voll berechtigt erscheint. Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, daß der politische Wandel in der nunmehr preußischen Stadt sein Vorhaben begünstigt.

Für Miquel ist es bald selbstverständlich, für eine dritte weiterführende Schule in der Stadt zu kämpfen, und zwar für eine Einrichtung, die anders als das Carolinum und das Ratsgymnasium das Schwergewicht auf die Naturwissenschaften und die neueren Sprachen legen soll, um so den Erfordernissen von Industrie, Handwerk und Wirtschaft eher gerecht zu werden. Dabei lehnt der neue Bürgermeister eine Erweiterung der seit 1847 bestehenden Realklassen an den beiden katholisch beziehungsweise lutherisch geprägten Gymnasien ab. Leiter des Ratsgymnasiums ist damals, nach Abeken, Carl Georg August Stüve, der Bruder des früheren Bürgermeisters. Wie wenig beide Stüves von der neugegründeten Schule halten, zeigt folgende Äußerung des Alt-Bürgermeisters im Sommer 1870, nachdem Miquel die erste Phase seiner Osnabrücker Tätigkeit als Bürgermeister (1865-1869) bereits beendet hat: „Übrigens hat Herr Miquel uns bereits mit einer Realschule beschenkt, mit einem Gebäude von 40.000 Talern, die zu nichts genutzt hat als die faulen und dummen Jungen vom Gymnasium wegzuschaffen“ [2]Diese Aussage zeigt wohl besonders kraß das Ausmaß an Skepsis, ja Überheblichkeit, mit der nicht nur klassische Philologen den jungen „Realschulen“ überall im Lande begegnen. Ahnliches widerfährt auch den technischen Hochschulen, die lange um das Promotionsrecht kämpfen müssen und erst um die Jahrhundertwende darin Erfolg haben, ebenso wie die Realgymnasien, denen etwa gleichzeitig die Anerkennung des dort erworbenen Abiturs für alle Fakultäten gelingt. Christian Graf von Krockow schreibt dazu in seiner jüngst erschienen Darstellung „Die Deutschen in ihrem Jahrhundert“ unter Bezugnahme auf die preußische Kultusverwaltung und deren langjährigen maßgeblichen leitenden Beamten Friedrich Althoff: „Gegen das Wehgeschrei aus den alten Institutionen […] setzte er nachdrücklich eine neue Entwicklung durch.“ Ähnlich läßt sich über Miquel urteilen, bezogen auf dessen erfolgreiche Schulpolitik in Osnabrück.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Stufen der Auseinandersetzung um die Genehmigung der Osnabrücker „Realschule“ im einzelnen zu schildern. Hingewiesen sei jedoch auf eine Reihe von Vorgängen, die belegen, wie intensiv hinter den Kulissen gegen den Beschluß der städtischen Kollegien vom 16. Februar 1867 – bei nur einer Gegenstimme – intrigiert wird. Kein Zweifel: Der Kulturkampf wirft bereits seine Schatten voraus. Zunächst bleibt die Entscheidung der zuständigen Behörden in Berlin und Hannover lange offen. Miquel muß beim Minister in Berlin persönlich feststellen, daß das Oberschulkollegium in Hannover die Angelegenheit nicht weitergeleitet hat. Unschwer, sich vorzustellen, daß eine wohl noch welfisch und somit großdeutsch eingestellte Behörde wenig geneigt ist, dem Nationalliberalen Miquel und inzwischen entschiedenen Bismarckanhänger gefällig zu sein. Schließlich finden in jenen Wochen auch die Wahlen zum verfassunggebenden norddeutschen Reichstag statt, für den Miquel kandidiert. Sein Gegenkandidat aus dem Welfenhaus wird ob seiner prohabsburgischen Einstellung ganz offen den Katholiken in Stadt und Land Osnabrück seitens der Geistlichkeit empfohlen.

Bedenkt man, welch hohen Stellenwert die katholische Kirche bis heute Bildung und Erziehung beimißt, nimmt man die erst wenige Jahre zurückliegende Wiedererrichtung des Osnabrücker Bistums hinzu sowie die generelle Frontstellung des damaligen Papstes gegen alle liberalen Vorstellungen, dann wird dieser Widerstand, mit dessen Intensität auch Miquel selbst nicht gerechnet hatte, verständlich. Zudem darf nicht übersehen werden, daß der katholische Bevölkerungsanteil der Stadt – etwa ein Drittel der damals 18.000 Einwohner – sich seit langem von deren Leitung ausgeschlossen sieht, denn de facto sitzt kaum ein Katholik, wiewohl sich die entsprechende Rechtslage seit 1833 geändert hat im Rat.

Lembcke spricht mit Recht davon, daß die „Gründungsgeschichte der umstrittenen Osnabrücker Schule bis auf den heutigen Tag nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“ habe.[3] Und kurz zuvor heißt es: „Für die Zeitgenossen wurde erst am Beispiel der Osnabrücker Realschule übersehbar, daß der Schulanspruch zu den unabdingbaren Forderungen der durch die jüngste politische Entwicklung nur noch aktivierten katholischen Geistlichkeit gehörte. Die Osnabrücker Realschule wurde von der katholischen Kirche offensichtlich als Modellobjekt gesehen, dem Verhalten diesem Modellobjekt gegenüber repräsentative Bedeutung beigelegt.“[4]

Miquel aber wird nicht müde zu betonen, daß die Einrichtung der kommunalen Realschulen derart sein müsse, daß sie den Katholiken Vertrauen einflöße. Er tut dies ganz in der Überzeugung, daß eine konfessionslose Kommunalschule die schneidenden konfessionellen Gegensätze gerade in Osnabrück mildern könne, zumal „die gebildeteren Katholiken das Zustandekommen der Realschule entschieden unterstützten.“[5] In welchem Umfang das wirklich so war, läßt sich schwer beurteilen. Denn liest man eine etwa elf Seiten umfassende „Gehorsamste Vorstellung katholischer Bürger der Stadt Osnabrück, die Errichtung einer Realschule daselbst betreffend“, so entsteht keineswegs der Eindruck, daß dieses Schreiben an Seine Excellenz den Königlich Preußischen Geheimen Staatsminister und Minister der Geistlichen, Unterrichts- undMedicinal-Angelegenheiten, Herrn Dr, von Mühler, von weniger gebildeten Katholiken verfaßt ist. Wer auch immer dessen Abfassung besorgt hat – ein Verfasser ist namentlich nicht genannt -, es dominiert die Sorge, „daß die fragliche Anstalt in Wirklichkeit sich als eine confessionelle, und zwar als eine evangelische entwickeln werde.“[6] Daneben ist unübersehbar die verständliche Erbitterung darüber, daß der katholische Bevölkerungsteil im Magistrat und in den Bürgervorsteherkollegien so gut wie gar nicht vertreten ist. So wundert es nicht, daß der Osnabrücker Bischof Beckmann noch kurz vor Eröffnung der Schule – am 6. und 13. Oktober 1867 – von der Kanzel des Doms herab öffentlich gegen die Anstalt spricht und an die Eltern „die ernste Mahnung und dringende Bitte“ richtet, „unter keinen Umständen ihre Pflegebefohlenen in jene Anstalt zu geben.“[7]

Als der erste Direktor der Schule, Dr. Otto Fischer, in Hildesheim geboren und dort vor seiner Berufung nach Osnabrück Konrektor am Gymnasium Andreanum, sich 25 Jahre später „Zur Geschichte des Königlichen Realgymnasiums“ äußert, ist die damalige „lebhafte Agitation gegen den Plan“ wiederum Gegenstand der Betrachtung, zumal Fischer wohl selbst als Person angegriffen wird. Er erwähnt in dieser Jubiläumsschrift von 1892, daß er vom 10. bis 12. Mai 1867 in Osnabrück geweilt habe, um mit Vertretern der Stadt die Einrichtung der Schule, insbesondere einen Lehrplan zu besprechen. Es ist denkbar, daß dieser Besuch aus Hildesheim in besonderer Weise Anlaß gewesen ist für das bereits erwähnte Schreiben von 76 katholischen Bürgern, welches das Datum des 20. Mai 1867 trägt. Fischer verweist jedenfalls ausdrücklich darauf, bemüht sich aber im folgenden um so viel Sachlichkeit wie möglich. So schreibt er mit Blick auf die Auseinandersetzungen in der Lokalpresse: „Daß in diesem Zeitungsstreite die größere Mäßigung und Sachlichkeit auf Seiten der Schulgegner war, darf nicht verschwiegen werden.“[8]

Daß angesichts all dieser Kontroversen der Bischof der feierlichen Eröffnung der Schule am 28. Oktober 1867 durch Bürgermeister Miquel fernbleibt, liegt auf der Hand. Er wird sich auch über Jahre hin weigern, einen Geistlichen mit der Erteilung katholischen Religionsunterrichts zu betrauen. Dies ändert sich erst ab Ostern 1873, als mitten im Kulturkampf Domvikar Berlage dieser Auftrag erteilt wird. Es sind die Jahre, die Miquel in Berlin als Verwaltungsratsvorsitzenden der Disconto Gesellschaft und einflußreiches Mitglied der Nationalliberalen Partei sehen. Vermutlich sind es kluge taktische Erwägungen des Bischofs, in dieser Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat den Bogen nicht zu überspannen. Denn immerhin verhindert Miquel in dieser Zeit sowohl die zwangsweise Absetzung des Bischofs[9] als auch die Ausweisung der Ursulinen per Dekret.[10]

[1]  Fesser, Gerd „Die Welt stürzt ein!“ in, DIE ZEIT, 5. Juli 1991, Seite 37

[2]  Lembcke, Rudolf, Johannes Miquel und die Stadt Osnabrück unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1865-1869, Osnabrück 1962 Seite 253

[3]  Lembcke, a. a. O., S. 110 und 113

[4]  Lembcke, ebd.

[5]  ebd.

[6]  Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 726, Nr. 1

[7]  Lembcke, a. a. O., S. 115

[8]  Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 726, Nr. 1

[9]  Lembcke, a. a. O., S. 115

[10] Festschrift 125 Jahre Ursulaschule, Seite 112

Das alte Schulgebäude Lotter Straße  (1870 bis 1980)

125 Jahre Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. Versuch einer Standortbestimmung aus historischer Sicht (ein Artikel aus der Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum 1992)

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