Erster Weltkrieg

Das wenige Archivmaterial zu dieser Zeit erlaubt dennoch ein Einfühlen in die Atmosphäre. In das Jahr 1917 fällt das 50jährige Bestehen der Schule. Es ist das Jahr, in dem die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten, in dem der Reichstag auf einen Verständigungsfrieden pocht, in dem in Rußland die Revolution losbricht. Leider geht aus dem Bericht der Osnabrücker Zeitung aus Anlaß der „50jährigen Jubelfeier der Anstalt“ nicht hervor, ob und inwieweit Direktor Uhlemann bei seinen Ausführungen darauf eingeht. Es heißt lediglich an einer Stelle: „Anknüpfend an die ernsten Ereignisse der Gegenwart teilte der Redner zunächst mit, in wie großem Umfange die Anstalt an dem gewaltigen Verteidigungskriege um Deutschlands Macht und Ehre beteiligt ist […] Auch die kommende Zeit brauche Männer von großer Charakterstärke und fester edler Willenskraft“ Unverkennbar ist neben der Betroffenheit ein gewisser Stolz auf die große Zahl an Lehrern und Schülern dieses Gymnasiums, die „auf dem Feld der Ehre blieben“. Wir kennen dieses Pathos bereits aus der Einführungsrede Uhlemanns. Unwillkürlich wird man an eine Szene in Erich Maria Remarques Roman „Der Weg zurück“ erinnert. Der Autor schildert eine Begrüßungsfeier in der Schule für aus dem Krieg heimgekehrte Schüler der Anstalt. Es kommt zum Tumult, als der Direktor in eben diesem pathetischen Ton zu reden anhebt. Ein Schüler tritt vor und erklärt zuletzt folgendes (wir wissen jedoch nicht, ob sich dies so an einer Osnabrücker Schule abgespielt hat):

„Wir verlangen keine Rechenschaft von Ihnen – das wäre töricht, denn niemand hat gewußt, was kam. Aber wir verlangen von Ihnen, daß Sie uns nicht wieder vorschreiben wollen, wie wir über diese Dinge denken sollen, Wir sind begeistert ausgezogen, das Wort Vaterland auf den Lippen – und wir sind still heimgekehrt, aber den Begriff Vaterland im Herzen. Darum bitten wir sie jetzt zu schweigen. Lassen Sie die großen Worte. Sie passen nicht mehr für uns. Sie passen auch nicht für unsere toten Kameraden. Wir haben sie sterben sehen. Die Erinnerung daran ist noch so nahe, daß wir es nicht ertragen können, wenn über sie so gesprochen wird, wie Sie es tun. Sie sind für mehr gestorben als dafür.“[21]

Liest man allerdings den Bericht eines Schülers aus dem Sommer 1919 über die Teilnahme an einer „Pilgerfahrt“ zum Mausoleum Bismarcks, dann erhebt sich doch berechtigter Zweifel daran, ob eine solche Szene wie die von Remarque geschilderte in dieser Schule denkbar ist. Angesichts des handschriftlichen Berichts eines Oberprimaners wird nur allzu deutlich, in welchem Umfang die Empörung über den Versailler Vertrag die Gemüter bewegt und wie intensiv die Sehnsucht nach einem zweiten Bismarck ist. Und natürlich findet sich kein Wort auch nur andeutungsweise auf die gerade entstehende Weimarer Verfassung. Dr. Uhlemann ist zu diesem Zeitpunkt immer noch Leiter der Schule (bis September 1919). An der Gedenkfeier im Sachsenwald bei Hamburg nehmen rund tausend Vertreter von 63 Schulen aus dem ganzen Reich teil. Die Sprache des Schülerberichts mutet geradezu gespenstisch an, so sehr erinnert das Vokabular bereits an das Ende der jungen Republik und an die Zeit, in der „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ die Devise wird. Bezugnehmend auf die Rede des Direktors des Johanneums Lübeck schreibt der jugendliche Autor:

„Welch ergreifendes Gefühl für jeden, unter dem Rauschen der Eichen des Sachsenwaldes wieder einmal eine echt vaterländisch deutsche Rede, die über jedem Parteihader steht, zu hören. Aus jedem seiner Worte ging hervor, wie sehr dem deutschen Volke der rechte Führer fehle, und deshalb sei es Pflicht der deutschen Jugend, sich politisch zu bilden, um vielleicht später, wenn der eine oder andere dazu berufen ist, zum Heile des deutschen Vaterlandes mitzuhelfen und mitzuarbeiten. Seine Rede schloß mit einem ‚Hoch!‘ auf ‚unser armes geknechtetes Vaterland‘ und mit dem gemeinsamen Gesang ‚Deutschland, Deutschland über alles!‘ […] Bald darauf verließen wir mit vielen anderen Friedrichsruh, beseelt von dem festen Entschluß, auch unsererseits am Aufbau des deutschen Vaterlandes mit allen unseren Kräften zu helfen. Hoffentlich ist dann […] dem deutschen Volke ein zweiter Bismarck erstanden, der es zu neuer Blüte und Entwicklung führt.“[22]

Als wenige Wochen später, am 11. Oktober 1919, der Direktorwechsel stattfindet – in Gegenwart des Superintendenten Weidner und auch des Bischofs Dr. Berning – und Dr. Lucke den langjährigen Leiter Uhlemann ablöst, ist in dessen Einführungsworten erneut die Rede von „Führern für unser Volk“, die die höhere Schule heranbilden müsse. Aber auch rechtfertigende Töne sind nicht zu überhören, wohl an die Adresse der Linken gerichtet. Die Osnabrücker Zeitung gibt Lückes Gedanken wie folgt wieder: „Die Revolution habe die Vorwürfe gegen die Schulen zusammengefaßt in der Übertreibung, daß das bisherige Schulwesen ein veraltetes, totes System der Unfreiheit gewesen, unter dem die Seelen der Schüler hungern, kranken und verkrüppeln müßten, daß die Luft der Schule erfüllt gewesen sei von dem Ungeist toter Unterordung, von Mißtrauen und Lüge. Er gebe zu, daß vieles besserungswürdig sei, aber wie unberechtigt jener Vorwurf gewesen, habe die deutsche gebildete Jugend auf dem Schlachtfeld von Ypern bewiesen […] Der höheren Schule eigentliche Aufgabe sei hier, die Jugend hinzuleiten zum Verständnis für den Wert der Gemeinschaft, des Staates, des Volkstums, und zwar des deutschen. Die Volksgemeinschaft erfordere schließlich alle Tugenden, die auch den guten Menschen machten. Wir müßten nicht nur auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, sondern vor allem auf sittlichem wieder emporkommen.“[23]
Lücke denkt bei dem zuletzt wiedergegebenen Gedanken daran, daß alle zu materiell geworden seien, zu sehr bedacht nur auf äußeren Glanz und Schein: „Das hat uns in den Abgrund gestürzt.“ Eine erstaunliche Aussage, denkt man an all die Kriegsjahre, in denen wieder und wieder Kriegsanleihen gezeichnet wurden, in denen ein Ludendorff bedenkenlos Propaganda betrieb und auf Siegfrieden setzte! Oder richtet sich jener Vorwurf nicht eher gegen jene, die den historischen Materialismus im Sinne Marx’ auf ihre Fahnen geschrieben haben? Schwer zu sagen! Es bleibt der Eindruck einer tiefen Verunsicherung, was aber im Jahr des Versailler Vertrages nicht allzu verwunderlich ist.

Vier Jahre später, als ein erneuter Schulleiterwechsel ansteht, ändert sich der Stil der Reden nach und nach. Leider liegt die Einführungsrede Dr. Wilhelm Wendlands nicht vor, was um des fehlenden Vergleichs willen schmerzlich ist – gerade bei diesem Direktor, der die Schule sechzehn Jahre lang in schwierigster Zeit zu leiten hatte. Denn in der Auseinandersetzung mit der oberen Schulbehörde zur NS-Zeit lassen sich doch Rückschlüsse ziehen auf die Geisteshaltung dieses Mannes. Zunächst aber bewährt er sich in den Jahren der Weimarer Republik, besonders in der Endphase.

Anmerkungen:

[21] Herwig Johannes, Damals verboten heute vergessen, Berlin 1981 (Hirschgraben),

[22] siehe Anmerkung 6)

[23] siehe Anmerkung 6)

125 Jahre Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. Versuch einer Standortbestimmung aus historischer Sicht (ein Artikel aus der Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum 1992)

Der vollständige Aufsatz liegt hier als PDF-Dokument vor.

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