Jürgen Knoke (Abitur 1950) erzählt

Jürgen Knoke, Abiturient des Jahres 1950, teilt uns seine Gedanken zu seiner Schulzeit und zur Abiturfeier 2000 mit

Vor 50 Jahren, im Jahr 1950, hatten wir selbst in der damaligen Oberschule für Jungen in der Lotterstraße 6 unser Abitur bestanden. Nun bekamen wir die Gelegenheit, mit den Abiturienten des Jahrganges 2000 am EMA-Gymnasium an der Abiturfeier teilzunehmen. Es lief ein abwechslungsreiches, vielschichtiges und mit viel Liebe von Lehrern und Schülern zusammengestelltes Programm ab, das auch ein hohes Können verlangte und daher auch sehr gelobt wurde.
Wer wird es uns verdenken, dass unsere Gedanken 50 Jahre zurück schweiften? Wie war es damals? Wie beendeten wir unser Schulleben und wie waren die Jahre zuvor in Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren verlaufen? Zuerst fiel uns sofort ein, dass die Feier 1950 selbst ernster, auch einfallsloser war mit den Stereotypen von ernster Musik, Ansprache des Schulleiters, des Schülersprechers, vielleicht auch noch des Elternsprechers – das war es denn auch. Aber immerhin: Es war eine der ersten, normalen Reifeprüfungen nach dem schrecklichen 1000-jährigen Reich und den Hungerjahren danach.
Unser Abiturjahrgang 1950 war heterogener, als man erwarten konnte, obwohl es doch in unseren Klassen nur Jungen gab. Aber sie hatten eine sehr verschiedene Vergangenheit hinter sich. Es gab diejenigen, die bereits als Soldaten im Krieg waren ohne Abitur oder mit einem Notabitur, das aber nach dem Krieg nicht anerkannt wurde. Andere waren Flakhelfer, die sich in der Heimat gegen gegnerische Bomber meist vergeblich wehrten. Sie hatten sogar in ihren Lagern meistens etwas Schulunterricht.
Die Jüngeren aber, die nach 1928 geboren wurden, hatten auch nur bis 1942 oder 1943 einen normalen Schulunterricht. Fliegeralarm gab es bis dahin nur in der Nacht, ausgelöst durch britische Bomberverbände. Die Amerikaner, die tagsüber angriffen, waren bis zu der genannten Zeit noch nicht aktiv, so dass der Schulunterricht ungestört stattfand.
Die Mehrheit von uns waren junge (verführte) Nazis. Das lag weniger an den Lehrern, deren Unterricht weitgehend ideologiefrei war, sondern mehr an der Propaganda in Presse und Rundunk, die pausenlos auf uns herunter rieselte.
Ab 1943 änderte sich der relativ normale Schulalltag mit der Aufnahme der Tagesluftangriffe durch die USA. Da größere Städte gefährdeter waren als kleinere, wurden die Schulen geschlossen und die Schülerinnen und Schüler evakuiert. Die meisten gingen mit oder ohne ihre Mütter zu Verwandten in kleinere Orte, wo naturgemäß die Schulklassen voll und der Wohnraum knapp wurde. Die Situation verschlimmerte sich noch, als wegen der steigenden Zahl verwundeter Soldaten Schulgebäude in Lazarette umfunktioniert wurden und sich meistens 2 Schulen ein Gebäude teilen mussten. Vor- und Nachmittagsunterricht war die zwangsläufige Folge.
Dazu kam aber noch, dass mit der steigenden Zahl der Luftangriffe die Fliegeralarme und später auch die Bombardierungen in den kleineren Orten zunahmen. Fliegeralarm bedeutete sofortige Unterbrechung des Unterrichts – sei es auch mitten in einer Klassenarbeit – und Aufsuchen eines Luftschutzkellers. Von 1943 bis Ende 1944 wurde – abhängig von der geografischen Lage der Kleinstadt – nur noch zwischen geschätzten 40 und 70% des Unterrichts erteilt. Eine Klassenstärke von 60 Schülern war nicht ungewöhnlich, übrigens auch noch bis 2 Jahre nach Kriegsende. Ab Anfang 1945 war kein halbwegs normaler Unterricht mehr möglich. Sofern Fliegeralarme das zuließen, traf man sich zwischen ein- und dreimal in der Woche für ein wenig Unterricht und Aufgeben von Hausarbeiten in irgendeinem noch freien öffentlichen Gebäude, bis der Einmarsch alliierter Truppen auch diesen Zustand beendete.
Anstelle der Evakuierung in kleinere Orte bot die Regierung 1943 (in Osnabrück schon 1942) ein anderes Modell an, das sie Kinderlandverschickung – abgekürzt KLV – nannte, das von einer großen Zahl der Schüler der Osnabrücker Oberschule für Jungen angenommen wurde.
Schon 1942 wurden die Schüler nach Österreich verfrachtet. Der Rückkehr nach Osnabrück im Frühjahr 1943 folgte ein halbes Jahr später, wegen verstärkter Luftangriffe, die 2. KLV in ein Schlösschen an der deutsch-holländischen Grenze, aber noch im besetzten Holland. Man schlief in 8-Bett-Zimmern; der Unterricht war ähnlich wie in Osnabrück. Es gab hier weit weg von den Städten keine Luftangriffe. Die Jungen standen allerdings mehr unter der Kontrolle der Hitlerjugend als die evakuierten Schüler. Für viele überwogen trotzdem die positiven Eindrücke. Vor allem wegen der engen Bindungen mit den Klassenkameraden, die bis in die Nachkriegszeit, ja bis heute, prägend blieben.
Bei ihrer Rückkehr fanden die Schüler ein zu 60% zerstörtes Osnabrück, teilweise anderweitig belegte Schulen und eine dezimierte Zahl von Lehrern vor, weil viele im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft geraten waren. Anderen wurde als langjährigen Nationalsozialisten von der in der britischen Zone herrschenden Militärregierung keine Lehrerlaubnis erteilt. Doch noch gab es auch keinen Unterricht, sondern ganz andere Sorgen, um Nahrung und Heizung, dominierten. Die Wohnungsnot war wegen der ausgebombten Evakuierten und der aus dem Osten eingeströmten Flüchtlinge unvorstellbar. Wegen des wertlosen Geldes blühte der Schwarzmarkt. Ein Kilo Butter kostete 400 Mark; der brav schaffende Arbeiter verdiente vielleicht ganze 300 Mark im Monat.
Erst kurz vor der Jahreswende 1945/46 begann die Schule wieder. Man wird es nicht glauben. Wir waren glücklich darüber, obwohl der Unterricht nur ein Torso war. Die Gründe dafür waren: Lehrermangel und Raumnot. In den Klassen waren bis zu 60 Schüler, da ja Flüchtlinge aus ehemals deutschen, jetzt polnischen oder tschechischen Gebieten, nach Westen geflohen waren. Besonders schwierig war es für die Auswärtigen wegen des immer noch unregelmäßigen Zugverkehrs mit ohnehin nur 3 Zügen pro Tag und oft langen Wegen vom Heimatdorf zur nächsten Bahnstation. Es wurden ohnehin am Anfang nur die Hauptfächer unterrichtet. Nur dem milden Winter war es zu verdanken, dass überhaupt Unterricht abgehalten werden konnte. Im folgenden sehr strengen Winter 1946/47 nämlich versammelten sich trotz der gegenüber dem Vorjahr schon verbesserten Infrastruktur die Schüler zweimal in der Woche in eiskalten Räumen, nur um ihre Hausaufgaben abzugeben und neue zu empfangen. Wir haben die 8. Klasse über das Kriegsende hinweg vom August 1944 bis Ostern 1946 besucht. Wie diese Zeit verlief, habe ich ja zu dokumentieren versucht …  Der Tiefpunkt der Hungerzeit war nach dem harten Winter im Frühjahr 1947 mit teilweise nur 1200 Kalorien pro Tag erreicht.
Die amerikanische Regierung hat schon 1946 für die Schüler und Schülerinnen der US-Zone und der britischen Zone, die 1947 zur Bizone vereinigt wurden, eine Schulspeisung eingerichtet. Es gab an jedem Schultag einen halben Liter einer schmackhaften Suppe und anderthalb Riegel Cadbury Schokolade wöchentlich. Sonst war alles knapp oder nicht erhältlich, auch keine Schulbücher, sodass alles mitgeschrieben werden musste.
Unter Führung der US-Amerikaner wurde am 20. Juni 1948 die Währungsreform durchgeführt. Für 100 Reichsmark gab es in 2 Etappen 6,50 DM. Löhne, Gehälter, Mieten und Preise blieben in DM die gleichen wie vorher in RM. Schon am Tag nach der Währungsreform waren die Läden voll. Der Erfolg stellte sich durch die Einführung der sozialen Marktwirtschaft unter Abschaffung der Rationierung ein. Man wusste jetzt, dass sich Arbeit wieder lohnte. Der Schwarze Markt fiel über Nacht in sich zusammen.
Schon vor 1948 hatte es im immateriellen Bereich schon nach und nach eine Normalisierung gegeben. Uns lang vorenthaltene Kulturgüter strömten aus USA und Westeuropa in unser Land. Wir machten in der Tanzstunde Bekanntschaft mit dem anderen Geschlecht, was ja in unserer reinen Jungenschule bisher nicht möglich war. Nach der Währungsreform konnten wir die ersten Radtouren z.B. nach Süddeutschland unternehmen oder mit Pass und Visum ins benachbarte Ausland reisen, sofern man dort Verwandte besuchte. Ich kann versichern, dass Heidelberg oder Amsterdam für uns ein ähnliches Erlebnis war wie New York oder Rio für heutige Abiturienten.
In den Schulen hatte sich die Lage spätestens nach dem harten Winter 1946/47 stetig normalisiert, obwohl etliche junge Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, die das Abitur nachholen mussten. In unserer Schule besuchten die meisten Auswärtigen die Klasse 11a, die meisten Einheimischen die 11b. In der 11c trafen ein Rest beider Gruppen mit den älteren aus dem Krieg Heimgekehrten zusammen, was natürlich den geistigen Horizont beider Teile erweiterte.
Trotz der steigenden Schülerzahlen ging die Klassenstärke deutlich zurück, weil wieder mehr Räume und vor allem mehr Lehrer zur Verfügung standen. Relativ bald, spätestens im Herbst 1947, konnte wieder in allen Fächern unterrichtet werden. Es gab jetzt auch Schulfeste und Schulausflüge, aber noch kein Schullandheim. Im Goethejahr 1949 führten einige von uns in der Aula Teile des Torquato Tasso auf, alles Zeichen der Normalität. Anders als heute blieb der Klassenverband bis zum Abschluss zusammen; abgewählt werden konnten nur Religion bzw. eines der musischen Fächer. Allerdings gab es Arbeitsgemeinschaften. Ich nahm beim stellv. Direktor Simon 4 Jahre nach den Atombombenabwürfen in Japan an einer AG Atomphysik teil.
Die Zensuren reichten von 1 bis 5. Die Note 3, „genügend“ war die meist gegebene und letzte noch zur Versetzung ausreichende. Ein „Sehr gut“ im Zeugnis gab es kaum, manche Lehrer taten sich schon mit einer 2 schwer. Da es schon trotz nur weit unter 10% eines Jahrgangs Studierender in den Universitäten einen Numerus clausus gab, waren gute Noten wichtig. Wie es neuerdings wohl wieder angedacht wird, suchte sich jede Uni nach Abiturnoten und einer Eignungsprüfung ihre Studenten aus.
Im „Dritten Reich“ und noch eine gewisse Zeit danach gab es im gesamten Reichsgebiet für alle Oberrealschulen feste Lehrpläne: nach 4 Jahren Volksschule 8 Klassen* mit Englisch ab Klasse 5 und ab Klasse 7 für Jungen Latein, für Mädchen Französisch. In Osnabrück galt das noch 1950, im nordrhein-westfälischen Bielefeld gab es im Zuge der entstehenden Kulturhoheit der Länder zumindest eine für Schüler unsympathische Änderung: Es gab dort nämlich schon 13 statt 12 Klassen.
1950 arbeitete unsere Schule normal, aber das stark zerstörte Osnabrück hatte noch kaum mit dem Wiederaufbau begonnen. Was lag da näher als Thema des Abituraufsatzes als: ,,Wie soll Osnabrück wieder aufgebaut werden? Soll das historisch gewachsene Stadtbild wieder hergestellt werden, oder soll die Stadt nach modernen Gesichtspunkten entstehen?“

Hiermit schließt sich nun der Kreis. Nach fast 50 Jahren zurückgekehrt, sah ich, dass die Osnabrücker dieses Problem glänzend gelöst hatten, indem sie aus dem Entweder oder in der Fragestellung des Aufsatzthemas ein Sowohl als auch gemacht haben. Um den hervorragend gestalteten historischen Stadtkern bauten sie eine den Erfordernissen der Moderne gerecht werdende neue Stadt. Zum Opfer fielen der Name und der Standort unserer Staatlichen Oberschule für Jungen in der Lotterstr. 6. Nun, der neue Name Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium gibt ohnehin mehr her als unser alter, zumal ja Oberschulen (nur) für Jungen ohnehin wohl zu Recht der Vergangenheit angehören. Wenn man bei der Abiturfeier sieht, welche gestalterischen Möglichkeiten der neue Schulkomplex bietet, dann muss man allen nostalgischen Erinnerungen zum Trotz Lehrer und Schüler beneiden und beglückwünschen!

Jürgen Knoke

* Klassen, hier: Jahrgänge (es gab in Niedersachsen zunächst „G8“, bis 1953 „G9“ eingeführt wurde.

Quelle: EMA-REPORT 2001

 

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