Kinderlandverschickung 1941-1945

Zum Schutz vor den seit 1942 immer häufigeren Bombenangriffen der britischen und US-amerikanischen Luftwaffe wurden Kinder aus Großstädten in relativ sichere Gebiete in Deutschland, aber auch in besetzten Gebieten verschickt, in die österreichischen Alpen, in die Lüneburger Heide, in die Niederlande, nach Böhmen (heute Tschechien).
Osnabrück zählte zu den häufig angeflogenen Zielen der alliierten Bomber. Denn eines der strategischen Ziele der Alliierten war es, das Ruhrgebiet, das “industrielle Herz Deutschlands” vom Hinterland abzuschneiden und so die Versorgung der Wehrmacht zu stören. Da sich in Osnabrück Eisenbahnlinien kreuzen, wurde die Stadt schon sehr früh, sehr häufig und sehr heftig angegriffen. „Bomber Command“ (das Oberkommando der britischen Luftwaffe und dem Kommando von Arthur Harris – Spitzname „Bomber Harris„) verlegte sich mehr auf das sog. „moral bombing“ – Harris hoffte, durch Angrife auf Wohngebiete und Eisenbahnzüge die deutsche Zivilbevölkerung zu demoralisieren – was nicht gelang.

Vorbemerkung
Diese Eerinnerungen hat uns Georg Felhölter überlassen, der als Schüler einer Gruppe des heutigen Ratsgymnasiums zusammen  mit einer Gruppe des heutigen EMA an der Kinderlandverschickung ins Salzburger Land teilgenommen hat. Er ist seither mehrmals dort gewesen und hat viele Fotos von der Gegend gemacht; einige davon hat er uns für diese Seite  zur Ferfügung gestellt – herzlichen Dank.

 

Im Oktober 1944 kamen einige Klassen der Staatlichen Oberschule für Jungen (heute Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium) und der Ratsoberschule (heute Ratsgymnasium) im Rahmen der Kinderlandverschickung nach Österreich ins Salzburger Land. Der Sonderzug bestand aus D‑Zugwagen der 3. Klasse mit Holzsitzen. Jedes Abteil war mit sechs Jungen besetzt. Die Fahrt dauerte mehrere Tage. In den Nächten wurde es recht eng. Zwei Jungen lagen in den Gepäcknetzen, zwei weitere auf den Sitzen, und die letzten zwei kauerten auf dem Boden.

Wir sollten in Thumersbach bei Zell am See einquartiert werden. Als wir dort ankamen, hieß es, das Haus sei belegt. Also warteten wir im Zug noch einen Tag, bis die KLV-Verwaltung die Unterkünfte Mandlwandhaus, Mitterberghaus und Hochkeilhaus bei Mühlbach am Hochkönig gefunden hatte. Der Zug fuhr zurück nach Bischofshofen, und von dort ging es mit einem klapprigen Bus 11 km weiter nach Mühlbach.  Eine für Kraftfahrzeuge  geeignete Fahrstraße zum  Mitterberg gab es damals noch nicht. Es existierte lediglich ein geschotterter sehr steiler sogenannter Güterweg. (Der entspricht etwa unseren Forstwirtschaftswegen). So quälten sich die bergunerfahrenen Flachländer gut 500 m hoch zu ihren Unterkünften.

Unsere Koffer wurden in den nächsten Tagen mit einem Ochsenkarren hochgebracht. Heute ist der Mitterberg mit einer Straße bis zum Arthurhaus, das am Ende des Hochtales liegt, sehr gut erschlossen. Unsere aus drei Klassen bestehende Mannschaft wurde auf die drei Häuser Mandlwandhaus, Mitterberghaus und Hochkeilhaus verteilt. Mandlwand- und Mitterberghaus liegen am Eingang des Hochtales links und rechts der Straße auf rund 1350 m Höhe, das Hochkeilhaus 500 m weiter und etwas höher. Der Name Mitterberg bezeichnet keinen Berg, sondern das Almgebiet zwischen dem Hochkeil (1783 m) und der Mandlwand mit dem Hochkönig (2942 m) als höchster Erhebung. Das Mandlwandhaus befand sich in Privatbesitz, wurde aber zum Teil von einer Spezialeinheit des Militärs benutzt. Mitterberg- und Hochkeilhaus waren ursprünglich Betriebsgebäude des Kupferbergwerks.

Unterkunft, Verpflegung und Schulbetrieb durfte man in jeder Hinsicht als unzureichend bezeichnen. Meine Klasse 3 befand sich im Mitterberghaus. Ich schlief im Zimmer 2. Darin befanden sich vier Doppelstockbetten und sonst gar nichts. Wir hatten keinen Schrank, keinen Tisch, keine Sitzgelegenheit und kein Waschbecken. Nach kurzer Zeit hieß es, wir bekämen Hocker zum Sitzen. Doch die lagerten in einer Halle etwa auf halber Strecke zwischen Mühlbach und Bischofshofen. Also zogen wir eines Tages anstelle zur Schule 500 Höhenmeter hinunter nach Mühlbach und etwa 5 km entlang der Straße Richtung Bischofshofen und das Ganze mit einem schweren hölzernen Hocker auf den Schultern zurück auf den Mitterberg. Doch der Platz im Zimmer reichte nicht aus, für jeden Schüler einen Hocker aufzustellen.

Zum Schulunterricht mussten wir täglich ins Hochkeilhaus gehen. Verpflegt wurden wir im Mitterberghaus. Das hatte zur Folge, dass in der Frühstückspause zwei Schüler vom Hochkeilhaus hinunter gehen mussten, um ein großes Backblech voller Brotscheiben für die ganze Klasse herauf zu holen. Der Brotaufstrich war undefinierbar, aber der Hunger treibt’s rein. Zum Sattwerden reichte es nicht.

In den ersten Wochen der Gewöhnungsphase hatten wir damit zu tun, uns an das Gemeinschaftsleben und an die Umgebung zu gewöhnen. Die Verpflegung wurde – solange kein Schnee lag –  mit dem Ochsenkarren herangeschafft. Der Winter zeigte sich 1944 sehr früh. Der erste Schnee fiel am 28. Oktober, taute aber bald wieder. Am 10. November lag der Schnee aber schon fast 1 m hoch.  Diese Schneemengen waren für uns Nordländer unvorstellbar. Nun kam der Ochsenkarren nicht mehr herauf. Wir waren auf uns selbst gestellt. Aber wie sollten wir die Waren aus dem Tal herauf bekommen? Skier hatten wir nicht, auch keine Schlitten, nicht einmal Rücksäcke. Die Soldaten im Mandlwandhaus zeigten Erbarmen mit uns und liehen uns ihre drei Maultiere aus. Doch die gehorchen nicht Jedem. Wir zogen mit ihnen nach Mühlbach hinunter und beluden sie. Das erste kam bis kurz vors Ziel und blieb trotz bestem Zureden stehen. Das zweite Maultier streikte auf der Hälfte des Weges, und das dritte blieb bereits am Ortsrand am Beginn der Steigung stehen. Erst als die Soldaten zur Hilfe kamen, gehorchten die Maultiere und zogen weiter.

Eines Tages hieß es, wir bekämen Skier. Aber wie und wo denn? In Salzburg gebe es ein Lager im Keller eines bombenbeschädigten Hauses. Also wieder einen Tag schulfrei und ab nach Salzburg. Die Skier lagen nicht paarweise zusammen, sondern kreuz und quer durcheinander. Ich fand zwei etwa gleiche, aber sehr  breite Exemplare. Sie maßen 2,10 m Länge und hatten nur eine ganz primitive Lederbindung. An einen Skikurs war nicht zu denken. Wir mussten sehen, wie wir mit den Brettern zurechtkamen. Wir rutschten mit ihnen ins Dorf hinunter, montierten mehrere Skier zu einer Art Schlitten nebeneinander, beluden sie mit Proviant und zogen sie mit den Skistöcken hinauf.

Nicht nur die Verpflegung bereitete Probleme, sondern auch die Heizung. Das Mitterberghaus besaß eine Zentralheizung, die mit Holz befeuert wurde. Vorräte für den Winter waren nicht vorhanden. Also mussten wir im tiefen Neuschnee in den Wald, um die 1 m langen Holzscheite, die dort aufgestapelt waren, herbeizuschaffen. Das war für 13- bis 14 jährige Schüler nicht gerade die erfreulichste Freizeitbeschäftigung.

Wenige Meter dem Hauseingang des Mitterberghauses gegenüber stand eine kleine Holzhütte in der Art einer Gartenhütte. Darin wohnte einer unserer Lehrer (Herr Vesper mit seiner Schwester und ihrem Schoßhündchen). Eines Nachts hatte es so hoch geschneit, dass die Hütte nur noch in Form einer kleinen Erhebung im Schnee zu erahnen war. Elektrisches Licht gab es in der Hütte nicht. Es war stockdunkel. Die Außentür ließ sich nicht mehr öffnen. Was empfindet man in einer derartigen Situation? Erst nachdem wir eine Schneise durch den fast 2 m hohen Schnee gegraben hatten, wurden sie erlöst. Psychische Folgen sollen der Grund für die Heimreise unseres Lehrers mitsamt Anhang gewesen sein. Es war nicht ganz einfach, das umfangreiche Gepäck der beiden Personen und des Hundes ins Tal nach Mühlbach zu schaffen. Der Güterweg war steil, glatt und kurvenreich. Der Schlitten mit den Koffern und sonstigen Utensilien war hoch vollgeladen. Da war es kein Wunder, dass die ganze Ladung in den Spitzkehren (Kurven im spitzen Winkel) umstürzte und mühsam aus dem Schnee befreit wieder aufgeladen werden musste.

Hin und wieder mussten unsere Schuhe, die sich nicht durch beste Qualität auszeichneten, repariert werden. Der Schuster im Dorf war dazu mengenmäßig nicht in der Lage. Wir mussten sie in eine Schuhfabrik nach Radstadt bringen. Aber wie? Zuerst schwangen wir den mit Schuhen gefüllten Jutesack über die Schulter und stapften 500 Höhenmeter hinunter nach Mühlbach. Mit viel Glück erreichten wir einen Bus nach Bischofshofen; falls nicht, hatten wir vielleicht Glück, auf einem Langholz‑LKW auf Brettern im Freien sitzend mitzufahren. Bei der Kälte war das zwar ein Erlebnis, aber wahrlich kein Vergnügen. Mit dem Zug ging es weiter nach Radstadt. An einem Tag war es kaum zu schaffen. Also übernachteten wir bei der Bahnhofsmission. Zwei Tage Schulunterricht waren wieder dahin.

Eines Tages erlebten wir einen Luftkampf zwischen einem amerikanischen Bombergeschwader und deutschen Jagdflugzeugen. Dabei wurde ein amerikanisches Jagdflugzeug, das die Bomber begleitete, abgeschossen. Die zwei Besatzungsmitglieder konnten sich mit dem Fallschirm retten. Sie müssten in der Nähe des Arthurhauses landen. Unsere Wut gegen den amerikanischen Feind war dermaßen ausgeprägt, dass wir unser Fahrtenmesser – ein feststehendes Messer, das am Koppel befestigt war und Bestandteil der Uniform bildete – zückten, um damit die Amerikaner zu erstechen. Die Soldaten im Mandlwandhaus hinderten uns an unserem Vorhaben, nahmen die amerikanischen Soldaten gefangen und brachten sie ins Tal in ein Gefangenenlager.

Am 30. November wurde die Belegschaft des Mitterberghauses nach Abtenau – 20 km von der nächsten Bahnstation Golling entfernt ins Gasthaus „Zum Goldenen Hirsch“ – genannt „Moislwirt“ – verlegt. Wir glaubten zunächst, dass alle drei KLV‑Lager auf dem Mitterberg geräumt würden, weil ein menschengerechtes Überleben dort oben im Winter nahezu unmöglich war.

Dem war aber nicht so. Das Militär brauchte alle Räume des Mandlwandhauses. Deshalb mussten unsere Kameraden ausziehen. Sie wurden ins Mitterberghaus verlegt. Warum wir nach Abtenau kamen und nicht die Klasse aus dem Mandlwandhaus, war uns nicht bekannt.

Das Leben beim Moislwirt in Abtenau schien zunächst etwas ruhiger zu verlaufen. Die Chefin des Hauses, Frau Moisl, war unsere Wirtschafterin. Wir schliefen in dicht zusammengestellten Doppelstockbetten im Tanzsaal im 1. Stock. Der Gastraum war zugleich unser Speiseraum, Aufenthaltsraum und Schulraum.

Die Wirtin verhielt sich uns gegenüber wie eine liebevolle Mutter. Doch gegen unseren Hunger war auch sie machtlos. Es wurde nicht genug Verpflegung geliefert.

Einmal hatten die Mäuse in der Vorratskammer einen Mehlsack angeknabbert. Frau Moisl mochte das Mehl in der Küche nicht mehr verwenden und stellte den Sack auf das Treppenpodest. Er war bald leer. Nein, es waren nicht die Mäuse. Wir verrührten das Mehl mit Wasser zu einem Brei und kleisterten unseren Magen damit zu.

Bei sonnigem Winterwetter bemühten wir uns, mit den etwas zu lang geratenen Skiern zurechtzukommen. Ohne fachliche Anleitung klappte das mehr schlecht als recht. Einen eigenen Idiotenhügel hatten wir unmittelbar hinter dem Hause. Ein sicherer Umgang mit Skiern war wichtig, weil wir zweimal in der Woche bei jedem Wetter und bei allen Schneeverhältnissen je 20 l frische Milch von den Bauern holen mussten, abwechselnd vom Scheffenbichl und vom Unterauhof. Vom Scheffenbichl war die Abfahrt lang und steil. Bei starkem Schneetreiben war sie nicht angenehm.  Vom Unterauhof verlief der Weg über den Postbichl am Rand des Dorfes mit einer kurzen, steilen Abfahrt ins Dorf. Dort lauerten die Dorfburschen mit ihren kurzen, wendigen Skiern auf uns und sprangen hinten auf unsere Bretter, so dass wir vornüber stürzten und sich die Milch über unseren Kopf auf die Straße ergoss. Bei den Frostgraden bildete sich sofort eine prächtige Milcheisbahn. Von unserer Wirtin und unseren Kameraden wurden wir dafür aber nicht freudig begrüßt. Es gab wieder einmal drei Tage lang keine Milchspeisen. Die Milchkanne trugen wir wie einen Rucksack. Sie bestand aus Aluminium, war aber im Querschnitt nicht rund, sondern der Rückenform angepasst. Es waren zwei Trageriemen daran befestigt, und oben auf der Kanne saß ein Stülpdeckel. Derartige Kannen gibt es heute nicht mehr.

In Abtenau war fast jedes Gasthaus als KLV‑Lager umfunktioniert. Eine weitere Klasse der Staatlichen Oberschule zusammen mit der Ratsoberschule befand sich im Gasthaus Bräu und eine Klasse des Gymnasiums Rheine im „Roten Ochsen“. Die offizielle Lagerleitung eines jeden Hauses oblag einem Lehrer, doch daneben gab es einen von der Hitlerjugend abkommandierten Lagermannschaftsführer, der unsere Freizeit gestalten und uns in nationalsozialistischer Gesinnung erziehen sollte. Für alle Häuser zusammen gab es einen Hauptlagermannschaftsführer, der zugleich als Lagermannschaftsführer unseres Hauses fungierte. Er war Mitglied der Waffen‑SS und wegen einer schweren Rückgratverletzung nicht mehr wehrdiensttauglich. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst und hat es geschafft, unsere Gesinnung derart zu formen, dass wir uns freiwillig für die Waffen‑SS verpflichteten und voller Stolz als äußeres Zeichen ein rotes Bändchen um die Schulterklappen an unserer dunkelblauen Lageruniform trugen.

In unsere KLV‑Zeit fiel auch ein Weihnachtsfest. Über die sich daraus entwickelten Gefühle und Emotionen möchte ich mich nicht auslassen. Jeder Leser wird sich vorstellen können, welche Gedanken im Kopf  eines Schülers meines Alters am Fest der Freude und der Liebe unter den gegebenen Umständen kreisen. Wir erfuhren, dass Osnabrück in der Zeit unserer Abwesenheit mehrmals stark bombardiert worden war, wussten aber nicht, ob die Eltern noch lebten, die Wohnung noch vorhanden war, und wie es meinen Brüdern ging, die alle fünf im Krieg waren. Die Kommunikation mit der Briefpost funktionierte nur sporadisch. Ein Telefon gab es nicht.

Als der Winter endlich dahinschmolz und der Frühling erwachte, zog Prof. Schomburg (Leiter des KLV-Lager im Gasthaus Bräu) mit uns in breiter Front über die Wiesen rund um Abtenau und lehrte uns die genießbaren Blumen und Kräuter. Nachher war kein Gänseblümchen mehr zu sehen. Aus den zarten Trieben der Brennnesseln zauberte Frau Moisl eine schmackhafte Suppe. So konnte man dem Hunger ein klein wenig entgegensetzen.

Kurz vor Ende des Krieges wurde die letzte Reserve aktiviert. Alte Männer, die sich gerade noch auf den Beinen halten konnten, sowie Jungen vor dem wehrpflichtigen Alter wurden zum „Volkssturm“ einberufen. Auch wir erhielten, unabhängig vom Alter, militärische Ausbildung. Da wir den damals üblichen Karabiner 98 noch nicht tragen konnten, bekamen wir kleinere Sturmgewehre italienischer Produktion und die Attrappe einer Panzerfaust. Die Ausbildung bestand im Wesentlichen darin, an einem steilen Hang auf dem Waldboden mit dem Gewehr in „Vorhalte“ bergauf und bergab zu robben.

Einige Klassenkameraden, die schon 14 Jahre alt waren, sollten am Pass Lueg im Salzachtal südlich von Golling „das Vaterland verteidigen“. Sie sollten das Vordringen feindlicher Panzer auf der heutigen österreichischen Bundesstraße 159 dadurch erschweren, dass sie vorgefertigte Panzersperren auf Befehl zuschieben sollten. Den Befehl sollten sie über ein Feldtelefon erhalten, das an einem Baum befestigt war. Der Befehl kam nie, wohl aber kamen amerikanische Panzer. Die Amis wunderten sich über die kleinen Jungen in ihren Khakiuniformen, die aus dem Afrikafeldzug übrig geblieben waren, und ihre Ausrüstung mit einem Sturmgewehr und einer scharfen Panzerfaust. Die amerikanischen Soldaten nahmen ihnen die Waffen ab, statteten sie mit reichlich Schokolade aus und schickten sie davon. Am nächsten Tag waren sie wieder bei uns und erfreuten uns mit einem Stück Schokolade.

Unser Waffen‑SS-Hauptlagermannschaftsführer glaubte, sich noch ganz besonders für das Wohl seines Vaterlandes einsetzen zu müssen und wollte sich der Untergrundorganisation „Werwölfe“ anschließen. Wir halfen ihm beim Packen seines Rucksacks. Er verschwand zwei Tage vor der Kapitulation und ward nicht mehr gesehen. Er fehlte uns nicht.

Im Lammertal, in dem Abtenau liegt, fanden keine Kampfhandlungen statt. Es wurde bis zum Tag der Kapitulation nicht von feindlichen Truppen besetzt. Da wir nicht ahnen konnten, was mit uns passieren würde, hatten wir uns auf den denkbar ungünstigsten Fall vorbereitet. Unsere Koffer mit der Kleidung und unseren Utensilien hatten wir in der Scheune unseres Milchbauern in der Unterau verschanzt. Unsere Ausweise und Hitlerjugendabzeichen von der Uniform  sowie unser Fahrtenmesser hatten wir in einem Metallbehälter hinter dem Hause vergraben. Unsere weiß-blau karierten Kopfkissenbezüge wurden zu Rucksäcken umgearbeitet und mit den notwendigsten Sachen für eine mögliche Flucht gefüllt. Die letzten zwei Nächte schliefen wir in voller Kleidung.

In den letzten Tagen vor der Kapitulation fuhren viele Fahrzeuge hoher Nazi- und Militärfunktionäre, die sich durch die Nebentäler der Alpen nach Süden absetzten, durch Abtenau. Die Fahrzeugkolonne von Adolf Hitler war auch darunter. Viele legten hier eine Pause ein. Auf dem Marktplatz stand ein PKW, dessen Rücksitz mit vielerlei Utensilien voll gestapelt war. Oben drauf lag eine Schnapsflasche. Das Seitenfenster stand etwas offen. Einer unserer Lehrer sah das, schlich am Auto vorbei, griff die Flasche und wollte verschwinden. Der Fahrer, der das aus der Nähe beobachtet hatte, sprang unserem Lehrer entgegen und rief: „Hallo, Kamerad, die Flasche kannst haben. Der Inhalt bleibt hier““ Er holte sein Kochgeschirr aus dem Auto, füllte den Schnaps hinein und übergab unserem Lehrer die leere Flasche.

Mit dem Tag der Kapitulation hörte der deutsche Staat auf zu existierten. Es gab keine geordnete Verwaltung mehr. Da wir nicht ahnen konnten, was nach der Besetzung mit uns geschehen würde, hielt es eine Gruppe von sieben Klassenkameraden für sinnvoll, die nächste Zeit in eigener Verantwortung zu gestalten und möglichst schnell zu den Eltern – sofern sie noch leben sollten –heimzukehren. Nachts um 12 Uhr stiegen wir aus einem Fenster in der Gaststube und zogen mit den blauweiß-karierten Rucksäcken in stockdunkler Nacht über den Pass Gschütt nach Gosau im Salzkammergut.

Der Rückweg aus dem KLV‑Lager war keine Vergnügungsreise, auch keine organisierte Erlebnis- oder Abenteuerreise. Es war der nackte Kampf ums Überleben. Es gab weder öffentliche Verkehrs- noch technische Kommunikationsmittel. Niemand kümmerte sich um uns. Hilfsorganisationen, die sich uns unbegleiteter, mittelloser Kinder hätten annehmen können, existierten nicht. Wir hatten nicht einmal Geld in der Tasche, auch keinen Personalausweis. Unsere Sorge war: Leben die Eltern noch? Steht das Wohnhaus noch? Haben wir noch ein Bett zum Schlafen? Was werden die Besatzungssoldaten unterwegs mit uns machen?

Nach 20 Tagen und einer Wegstrecke von rund 850 km schloss meine Mutter mich in ihre Arme. Auch meine fünf älteren Brüder kehrten – einige erst nach Jahren – körperlich unversehrt  aus der Kriegsgefangenschaft heim.

Georg Felhölter

 
Bilder, die Georg Felhölter uns zur Verfügung gestellt hat

Diese Bilder können einige der in den Briefen und dem Tagebuch erwähnten Gebäude, das Zimmer 2 und den atemberaubenden Blick aus dem Fenster, den Speisesaal, der fast unverändert ist, sieht man von den neuen Tischplatten ab, Häuser selbst und Landschaften illustrieren.
Diese Fotos hat Georg Felhölter viel später gemacht.

Wir danken von Herzen.

 

Mitterberghaus, Speisesaal 2014
Mitterberghaus Speisesaal 2014 (2)
Hochkeilhaus 1400 m ü. NN 2014
Mitterberghaus, Zimmer 2 2014
Mitterberghaus, Mandlwandhaus 2014
Mitterberghaus, Eingang Speisesaal 2014
02-Karte
Spielplatz-2-Barbaraschlucht
Spielplatz-1-Eingang zum Stollen
Hochkeilhaus 2005
Mitterberghaus, Ausblick Zimmer 2 2005
01-Karte
Mitterberghaus 1360 m ü. NN 2014
Mitterberghaus, Speisesaal 2014 (3)