1. klv-lager-abtenau

KLV-Lager Abtenau im Salzburger Land

Oktober 1944 bis Mai 1945; Lagerleiter: Prof. Schomburg;

Bilder von den verschiedenen Häusern finden sich unten.

Erinnerungsprotokoll über meine KLV-Zeit 1944/45 in Abtenau

Es folgt ein Bericht eines Teilnehmers an der Kinderlandverschickung nach Abtenau im Salzburger Land.
Diese “KLV” wurde Ende 1944 bis Kriegsende gemeinsam mit dem Ratsgymnasium durchgeführt.

Im Herbst 1943 wechselte ich von der Teutoburger Volksschule zur Ratsoberschule für Jungen. In diesem Kriegsjahr war es ruhig in Osnabrück. Die immer größer werdenden Bomberströme der Engländer und Amerikaner überflogen den hiesigen Raum, ohne dabei die Stadt anzugreifen. Diese Lage änderte sich schlagartig zwei Tage vor Heiligabend, als amerikanische Bomber einen schweren Luftangriff auf Osnabrück flogen. Das Jahr 1944 war dann gekennzeichnet durch verstärkte Angriffe auf die Stadt. Diese Angriffe zwangen zu einer Einschränkung der Unterrichtsstunden. Durch einen Nachtalarm begann die Schule eine Stunde später. Außerdem führten die vermehrten Tagalarme zu einer weiteren Reduzierung des Unterrichts. In den ersten Jahren des Krieges benutzte man bei Fliegeralarm die schuleigenen Schutzräume. Als diese keinen Schutz mehr boten, suchte jeder Schüler einen geeigneten Bunker in der Nahe der Schule auf, oder er versuchte sein Elternhaus zu erreichen. Ich fand Schutz im Loh- bzw. später im Redlingerbunker. Im Oktober 1944 erlebte ich dort einen schweren Luftangriff. Nach der Entwarnung kam ich beim Nachhauseweg an der Schule vorbei, die auch von Brandbomben getroffen war und im Bereich der Aula brannte. Sofort war man bereit, zu retten, was noch zu retten war. Ich half beim Ausräumen des Biologiesaales. Durch diesen Brand kam es zu weiteren Einschränkungen im Unterricht. Die Planungen, ganze Klassen an einen sicheren Ort zu schicken, wurden intensiv betrieben. Eine Verschickung nach Holland mußte schon bald aufgegeben werden, weil Mitte September 1944 ein Luftlandeunternehmen der Alliierten bei Arnheim auch dieses Gebiet unsicher machte. Als einzige Region verblieb der Alpenraum. Im November 1944 ging dann die Fahrt los. Zielort war Abtenau im Tennengebirge (Salzburger Land). Die Fahrt führte mit der Eisenbahn durch ein von Luftangriffen zerstörtes Deutschland. Eine Nacht schliefen wir in der Salzburger Jugendherberge. Hier erwachten wir von heftigen Explosionen. Wir sahen schon wieder einen Luftangriff auf uns zukommen. Glücklicherweise waren es nur Sprengungen im Fels unterhalb der Feste Hohensalzberg. Es wurden, wie schon in Osnabrück, Luftschutzstollen in den Berg getrieben. Die Bahnfahrt endete in Golling, weil Abtenau nur mit dem Bus zu erreichen war. Bis zur Abfahrt des Busses hatten wir eine längere Wartezeit. Auf einmal fing es an zu schneien. Wir liefen nach draußen, um uns über den ersten Schnee zu freuen. Heimweh und die Strapazen der Fahrt waren vergessen. In Abtenau wurden wir im Gasthof “Bräu” einquartiert. Dieser Ort sollte von jetzt an unser zweites Zuhause sein. Der Aufenthalt dauerte ungefähr zehn Monate, die mir aber weitaus länger vorkamen.

Zu unseren Betreuern gehörte ein Lehrer und ein Lagermannschaftsführer. Als Lehrer war Prof. Schomburg, von der staatlichen Oberschule für Jungen, für den Schulbetrieb und für die Verwaltung des Lagers verantwortlich. Von der Hitlerjugend abkommandiert, stand ihm der Lagermannschaftsführer zur Seite. Seine Aufgabe bestand darin, uns im nationalsozialistischen Sinne zu erziehen. Alle Schüler waren älter als zehn Jahre und gehörten daher zwangsläufig dem Jungvolk an. Aber auch innerhalb der Schülerschar gab es eine Führungsebene. Wenn auch im Verborgenen operierend, war diese Macht nicht zu unterschätzen. Zur Durchsetzung ihrer Interessen gab es das Instrument des “Heiligen Geistes”.

Für uns 30 Schüler waren vier Zimmer im 1. Stock als Schlafstuben mit doppelstöckigen Betten eingerichtet. Der Gastraum im Erdgeschoß diente als Klassenzimmer, Speisesaal und Freizeitraum. Als einziger Wandschmuck hing eine große HJ-Fahne an der Wand.

Weitere KLV-Lager gab es im Ort. Beim Moislwirt war eine höhere Klasse aus Osnabrücker Oberschulen mit zwei Lehrern untergebracht. Ohne vom Fliegeralarm gestört zu werden, hatte der Unterricht bald seinen normalen Rhythmus gefunden. Prof. Schomburg als Mitbegründer des Jugendherbergwerkes in Deutschland und als alter Anhänger der Wandervogelbewegung führte ein sehr naturverbundenes Leben. Seine Lebens- bzw. Eßgewohnheiten wurden auch auf uns übertragen. Unsere Brote hatten wir ohne Zusatz von Flüssigkeiten zu kauen. Getränke sollten nur vor oder nach den Mahlzeiten zu sich genommen werden. Zum Würzen der Speisen verwandte er vorwiegend Kümmel und Thymian. Dieses machten wir zu seiner Freude gerne nach, und fast jeder hatte die entsprechenden Gewürze neben seinem Teller stehen. Er wurde daher von uns auch Kümmeldoktor genannt. Zur gesunden Lebensweise gehörte auch das Rösten von Brotscheiben auf der Herdplatte in der Lagerküche. Doch eines Tages verbrannten die Scheiben, so daß dieses Verfahren schnell eingestellt wurde. Im 5. Kriegsjahr standen Lebensmittel nicht unbegrenzt zur Verfügung. Unsere Versorgungslage war dagegen noch als zufriedenstellend zu bezeichnen. Damit aber auch der letzte Rest auf dem Teller verwertet wurde, gehörte das Ablecken der Teller zur Schlußzeremonie unserer Mahlzeiten.

Nach der Mittagsruhe und der Erledigung der Schulaufgaben war unsere freie Zeit mit dem HJ-Dienst ausgefüllt, die der Lagermannschaftsführer leitete. Wir befanden uns in einer Gegend, in der die Kinder schon mit Skiern zur Welt kommen. In diesem Winter war reichlich Schnee gefallen, so daß wir uns in dieser Sportart auch versuchen konnten. Es war immer eine Freude, wenn auf dem Dienstplan Skilaufen stand. Außerdem gehörten Geländespiele und Touren in die nähere Umgebung von Abtenau zu unserem Dienst.

Beim Innendienst war die Putz- und Flickstunde nicht so beliebt. Lagerzirkus und Erzählstunden bildeten dagegen immer einen Höhepunkt im Lagerleben. Es fiel uns nicht besonders auf, wenn in diesen Stunden das NS-Gedankengut mit einfloß. Besonders interessant fanden wir die Berichte von Prof. Schomburg über seine Fahrten nach Lappland. Bastelstunden hatten einen hohen Stellenwert, denn die einzelnen Stuben waren nach Kriegshelden benannt. Jede Stube versuchte nun das Umfeld ihres Helden darzustellen. Miniflugzeuge hingen an der Stubendecke oder Panzermodelle standen in Schlachtordnung auf dem Spind. Als Schnitzmaterial dienten die Bodenbretter unserer Betten. Mit der Zeit war jedes zweite Brett verarbeitet. Die mit Holzwolle gefüllten Matratzen bogen sich stark durch, verloren aber glücklicherweise nicht den Halt. Vier Wochen nach unserer Ankunft gab es den ersten Wechsel in der Lagermannschaftsführung. Unser Führer, Hans-Jürgen Taubert, vertrat einen Führungsstil, der in der damaligen Zeit weit verbreitet war. Disziplin und Gehorsam sollten die Grundpfeiler der Erziehung sein. Man wollte aus uns Pimpfen “Kerle so hart wie Kruppstahl” schmieden. Kleinste Verfehlungen, wie nicht rechtwinkliges Liegen der Schlafdecken auf dem Bett, wurden mit Strafexerzieren geahndet. Eines morgens, der Anlaß ist mir nicht mehr in Erinnerung, mußten wir bei eisiger Kälte vor dem Lager antreten. Der anschließende Strafdienst ist einigen von uns nicht gut bekommen, so daß eine vorzeitige Ablösung des Lagermannschaftsführer unvermeidbar war.
Unser neuer Lagermannschaftsführer, Willi Wendte, war 15 Jahre alt und daher nicht viel älter als wir. Sein Führungsstil war kollegialer und damit war das Zusammenleben harmonischer.
Es gab immer wieder Abschnitte im Lagerleben, die nicht leicht zu ertragen waren. Weihnachten war so ein Fest, das wir erstmalig nicht mit der Familie, sondern in einer Gemeinschaft feierten. Der Zeit entsprechend fielen die Geschenke karg aus. Ich bekam ein kleines Mühlespiel mit Pappsteinen, die sich nach mehrmaligem Gebrauch auflösten. Etwas Licht in dieses Fest brachten die Päckchen aus der Heimat, die die Eltern sich vom Munde abgespart hatten.
Probleme, mit denen man persönlich konfrontiert wurde, mußten aus eigener Kraft gelöst und bewältigt werden. Eines Tages stellte Prof. Schomburg nach dem Mittagessen die Frage: “Wer hat nach Hause geschrieben, daß es uns hier nicht gut geht?” Keiner antwortete auf seine Frage. Auf einmal stellte ich fest, daß er mich mit seinem Blick fixierte. Er wartete noch eine Weile und sagte dann zu mir in scharfem Ton: “Du bist der Schreiber gewesen!” Ich war mir keiner Schuld bewußt und widersprach der Anschuldigung. Den Beweis meiner Unschuld konnte ich nicht beibringen, so daß ich einige Unliebsamkeiten zu ertragen hatte.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich der Vorgang aufhellte. Meine Eltern hatten gehört, daß es uns im Lager nicht so gut gehen sollte. Sie sprachen darauf die Tochter von Prof. Schomburg an, die sofort ihrem Vater berichtete, ich hätte diese Unwahrheiten nach Hause geschrieben.
Es war nicht einfach, in diesem Alter von Kameraden und der Lagerleitung geschnitten zu werden. Es entwickelte sich in mir der Wunsch, so schnell wie möglich wieder nach Osnabrück zurückzukehren. Um dieses zu erreichen, hatte ich mir eine besondere Taktik ausgedacht. Wir wurden regelmäßig von einer Krankenschwester aus dem Rheiner KLV-Lager, Frau Voss-Henrich, medizinisch betreut. Bei einem ihrer Besuche klagte ich über Schmerzen im Unterleib. Ihre Diagnose lautete: “Blinddarmentzündung.” Ich wurde in das Krankenrevier verlegt. Dort konnte man die Diagnose nicht bestätigen, und ich sollte wieder zurück ins Lager. Nun versuchte ich mein Verbleiben im Revier mit Schwierigkeiten beim Stuhlgang zu erreichen. Dieses hätte ich besser nicht sagen sollen. Ein Einlauf mit Seifenwasser behob dieses Leiden schnell, und bald darauf war ich wieder im Lager.
Ende Februar 1945 lief die Dienstzeit unseres Lagermannschaftsführer ab, und als Ersatz bekamen wir eine Lagermannschaftsführerin, die aber auch nur vier Wochen blieb. Es folgten nur noch weibliche Führer. Eine davon kam sogar aus Wien. Die männlichen HJ-Führer hatten sich auf den Endsieg vorzubereiten, von dem wir immer noch überzeugt waren, Was uns wirklich bevorstand, ahnten wir aber noch nicht, obwohl die Einflüge feindlicher Bomberverbände aus Italien immer weiter zunahmen. Einmal mußten wir den Schutzraum aufsuchen, weil in der Nähe von Abtenau ein Flugzeug seine Bomben im Notwurf abwarf. Dass wir an den Endsieg zu dieser Zeit noch glaubten, zeigte der Aufmarsch aller KLV-Lager zum Tag der Bewegung am 30. Januar 1945. An diesem Tag hielt unser Lagerleiter in einer NS-Uniform mit Breecheshose und langen Stiefeln eine nicht mehr zeitgemäße Rede, die ihm später noch manche unangenehme Stunden bereiten sollte.
Der Schnee schmolz und der Frühling erreichte den Alpenraum. Wir machten jetzt auch Wanderungen in der weiteren Umgebung von Abtenau. In der Au hatte Prof. Schomburg einen Gebirgsbach mit Brunnenkresse ausfindig gemacht. Dieses vitaminreiche Kraut, welches nach Prof. Schomburgs Worten im Osnabrücker Raum nur noch an einer Stelle zu finden war, wuchs hier reichlich. Es war eine gute Bereicherung unseres Vitaminbedarfes. Der Ausflug zur Karalm am Fuß des “Großen Traunsteins” führte uns zum ersten Mal in höhere Regionen. Während unser Tagesablauf geordnet und ruhig verlief, rückte der Krieg immer näher. Die Nachrichten, die uns aus Osnabrück erreichten, sprachen von fast täglichen Luftangriffen.

Ende März setzte der Postverkehr mit der Heimat aus. Für mich war es besonders beunruhigend, als die Nachricht durchsickerte, daß bei einem Angriff der Stolleneingang an der Brinkstraße von einer schweren Bombe getroffen worden sei und es dort sehr viel Tote gegeben habe. Dieser Stollen war auch die Zufluchtstätte meiner Eltern und meiner Schwester. Die Ungewißheit über das Schicksal meiner Familie hielt bis zu meiner Heimkehr an.
Um uns über den Verlauf des Krieges ein Bild zu machen, hatten wir eine Deutschlandkarte an unsere Stubentür befestigt und markierten mit Stecknadeln den Frontverlauf im Westen. Der Wehrmachtsbericht wurde jetzt täglich abgehört. Anfang April meldete der Bericht: “Straßenkämpfe in Osnabrück.” Wir haben die Nadel auf Osnabrück gesteckt und uns dann nicht mehr über den weiteren Vormarsch der Alliierten informiert.
Der Krieg machte aber auch vor Abtenau nicht halt. Kolonnen von Wehrmachtsangehörigen zogen durch den Ort Richtung Osten. Von geschlossenen Einheiten war keine Rede mehr. Einige Soldaten mit einem Steyr-LKW, beladen mit Proviant, machten an unserem Lager einige Tage Rast. Von den Vorräten wurde manche Portion für uns abgezweigt. Die Ereignisse überschlugen sich bald. Unsere Lagermannschaftsführerin war mit einem Mitschüler nach Salzburg zur HJ-Banngeschäftsstelle gefahren. Beide kamen nicht wieder zurück, denn die Amerikaner waren schneller. Nun wurde zum letzten Gefecht geblasen. Alle Schüler ab 14 Jahre und älter wurden zum Volkssturm eingezogen. Aus unserem Lager waren es zwei oder drei Schüler, die wir alle beneideten. Die Erziehung im NS-Sinne zeigte bei uns Früchte. Uns war überhaupt nicht bewußt, daß hinter so einer Aktion auch der Tod stehen könnte. Glücklicherweise hatte man die Sinnlosigkeit schnell eingesehen. Ende April wurden wir morgens in den Aufenthaltsraum befohlen, und Prof. Schomburg sprach zu uns mit bewegter Stimme: “Unser geliebter Führer ist in Berlin beim Kampf gegen den Bolschewismus für Deutschland gefallen!”
Langsam setzte sich bei der Lagerleitung die Einsicht durch, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Nach wie vor galt aber noch der Spruch: “Die Fahne ist mehr als der Tod.” Die HJ-Fahne wurde abgenommen und im Heu einer Feldscheune außerhalb von Abtenau versteckt. Jeweils zwei Schüler teilte man zur Fahnenwache ein. Ich gehörte zur zweiten Wache. In unserer Langeweile durchsuchten wir die Scheune und fanden zwischen Ackergeräten, die dort abgestellt waren, Säcke mit Mehl und andere Lebensmittel. Sie waren dort von unseren Wirtsleuten ausgelagert worden. Außerdem stand in einer Ecke versteckt eine funktionstüchtige Maschinenpistole. Eine der folgenden Wachen konnte der Versuchung nicht widerstehen und hielt damit Schießübungen ab. Das blieb nicht verborgen, und die Fahnenbewachung wurde wieder eingestellt. Damit war das Ende unserer Fahne aber noch nicht gekommen. Einige Zeit später entfernte man das Quadrat mit dem Hakenkreuz und heraus kam die österreichische Nationalfahne mit den Farben Rot-Weiß-Rot.

Durch Straßensprengungen zwischen Golling und Abtenau erreichten uns die amerikanischen Truppen erst nach der Kapitulation. Zuerst wurde es aber mit der Versorgungslage kritisch. Als Proviant hatten wir einen Sack Trockengemüse erhalten. Das daraus gekochte Gericht war ungenießbar. Wir sammelten die jungen Triebe von Brennesseln, die dann zu einer Art Spinat gekocht wurden.
Eines Nachmittags saß ich mit einigen Kameraden gelangweilt vor dem Lager, als Prof. Schomburg mit einem Rucksack bewaffnet heraustrat und kurz sagte: “Wir gehen zur Gsengalm und kommen morgen wieder!” In seiner Begleitung befanden sich einige RAD-Maiden, die der Rückzug nach Abtenau verschlagen hatte. Unsere Antwort war spontan: “Wir gehen mit!” So wie wir waren, schlössen wir uns der Gruppe an, was auch akzeptiert wurde. Die Gsengalm lag am Fuß des 1.800 m hohen “Schobers”. Bevor wir die Baumgrenze erreichten, passierten wir einen Lawinenbruch des letzten Winters. Geröll und zersplitterte Baumstämme versperrten uns den Weg. Es dauerte eine lange Zeit bis wir dieses Hindernis überwunden hatten. Als wir die Almhütte erreichten, die Alm war noch nicht wieder Bewirtschaftet, neigte sich der Tag dem Ende zu. Nach einem kargen Abendessen verkrochen wir uns ins Heu. Am nächsten Morgen sahen wir, wie sich ein Tier der Hütte näherte. Wir verhielten uns ganz still, weil wir eine Gemse vermuteten. Es war jedoch eine Ziege, die sich verirrt hatte. Die Freude auf eine Zusatzmahlzeit Milch verging schnell, als sich die Ziege als Bock entpuppte. Auf dem Hochplateau sind wir bis zu den Geröllhalden des Schobers gewandert. Zu einem weiteren Aufstieg fehlte uns das geeignete Schuhwerk und der Mut.
Den Einzug der Amerikaner beobachteten wir versteckt vom Fenster aus. Am nächsten Morgen weckte uns lautes Treiben vor unserem Lager. Die Amerikaner hatten ihre Feldküche bei uns aufgestellt. Die Kontakte waren schnell geknüpft, und wir waren eine kurze Zeit im Schlaraffenland. Von den überschüssigen Mengen ihrer Mahlzeiten haben wir gut gelebt. Es waren Kampftruppen, die aus dem Vollen schöpfen konnten. Bei den anschließenden Besatzungstruppen war die Großzügigkeit schon eingeschränkter.
Eine der ersten Amtshandlungen der Amerikaner bestand in der Suche nach NS-Funktionären. Die Einheimischen zeigten sofort auf unseren Lagerleiter, Prof. Schomburg, um von den eigenen Parteigenossen abzulenken. Die Verhaftung ließ nicht lange auf sich warten. Wir waren jetzt allein auf uns gestellt. Die beiden Lehrer aus dem Osnabrücker Nachbarlager, Albrecht und Schumann, sahen wohl mal nach dem Rechten, von einer Betreuung konnte aber keine Rede sein. Der Schulunterricht wurde eingestellt, und wir versuchten die Langeweile mit allerlei zweifelhaften Aktivitäten zu vertreiben.

Die deutschen Truppen hatten beim Rückzug Mengen von Munition und andere Kampfmittel zurückgelassen. Wir waren bald Experten auf dem Gebiet von Sprengkapseln und Zündschnüren. Es machte viel Spaß, die Patronen aus der Gewehrmunition zu entfernen, und dann das Schwarzpulver in den Hülsen anzuzünden. Es entstand ein Feuerstrahl, der sich dominoartig auf andere gefüllte Hülsen übertragen ließ. Das Treiben mit Sprengstoff blieb den Amerikanern nicht verborgen, und eines Tages kam ein Offizier und sagte im gebrochenen Deutsch: “Wenn Ihr so weitermacht, seht Ihr Vater und Mutter nicht wieder!” Wir wurden uns der Gefährlichkeit dieses Spiels bewußt und ließen von da ab unsere Finger davon.
An unserem Unterricht hatten in den letzten Monaten auch einige Jungen aus dem Dorfe teilgenommen, die ebenfalls vor Luftangriffen geflohen waren und jetzt bei Verwandten wohnten. Einer von Ihnen kam aus Innsbruck und hieß Walter Schlager. Wir hatten uns bald angefreundet, und die Hälfte seines Frühstücksbrotes kam mir oft zugute. Das Leben im Lager strebte einem Tiefpunkt zu. Neben dem Unterrichtsausfall wurde die Versorgungslage schlechter und dem Gemeinschaftsleben fehlte die führende Hand. Ich versuchte jetzt einen Weg zu finden, der es mir ermöglichte, mein Leben bis zur Rückkehr nach Osnabrück eigenständig zu gestalten. Mein Freund Walter wohnte bei Zieheltern auf einem Bauernhof. Ich bot meine Mithilfe gegen Kost und Unterkunft an. Durch die Vermittlung von Walter nahm die Familie Quehenberger auf. Der Mooshof lag ungefähr zwei Kilometer von unserem KLV-Lager entfernt. Die Familie bestand aus dem Bauern und der Bäuerin, einer älteren Tochter, Walter mit einer kleineren Schwester und dem Knecht Fred. Zwei Söhne waren noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Außerdem wohnte dort ein Wiener Ehepaar mit einem Schäferhund.
Als ich zum ersten mal mit am Tisch saß, bekam ich vom Bauern einen Alulöffel, den er mit seinem Messer für mich kennzeichnete. Die Familie war sehr christlich eingestellt, und das Tischgebet vor den Mahlzeiten war eine Selbstverständlichkeit. Im KLV-Lager waren nur derbe Tischsprüche an der Tagesordnung. Ich wurde wieder daran erinnert, daß es auch noch andere Werte gab. Die Speisefolge war tagtäglich gleich. Es gab eine dickgekochte Graupensuppe und anschließend Sauerkraut. Die Schüssel stand in der Mitte des Tisches, und alle aßen gemeinsam daraus.
Daran mußte ich mich erst noch gewöhnen. Diese beiden Gerichte bildeten die Vorspeise zu der dann folgenden Hauptmahlzeit, die aus den raffiniertesten Mehlspeisen des Salzburger Landes bestand. Zur Zeit der Holunderblüte schnitten wir diese ab, die dann in einen dünnen Mehlbrei getaucht im Fett zu Hollekrapfen gebacken wurden. Die Versorgung auf den Hofe war weitgehend unabhängig. Der anfallenden Milch entzog man mit einer Zentrifuge die Sahne, die anschließend in einem Stampffaß zu Butter verarbeitet wurde.

Im Gegensatz zu vielen Höfen, die einen Backofen draußen stehen hatten, befand sich auf dem Mooshof der Ofen in der großen Küche. Am Backtag heizte man frühmorgens den Ofen mit Holzscheiten ein, bis er eine gewisse Hitze erreicht hatte. Die Asche wurde entfernt und die vorbereiteten runden Brote konnten den Ofen geschoben werden. Wenn sie fertig gebacken waren, durchzog ein herrlicher Duft das Haus. Der Haupterwerbszweig in dieser Gegend war die Viehhaltung. Aus diesem Grunde war die Heuernte sehr wichtig, und wir Kinder wurden beim Wenden und Zusammenharken voll eingespannt. Der Getreideanbau spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Alle Arbeiten wurden von Hand oder mit den Kühen erledigt. Neben der Mithilfe auf dem Hofe blieb noch sehr viel Zeit für eigene Unternehmungen. In der Nähe lag der Eglsee, in dem Blutegel schwammen. An diesem Moorsee errichteten wir einen Badesteg, den wir mit einem selbstbemalten Schild “Freibad Eglsee” versahen. Beim längeren Schwimmen in diesem warmen Moorwasser konnte es vorkommen, daß beim Verlassen des Sees sich Blutegel am Körper festgesaugt hatten. Zur Abwechslung badeten wir in der Lammer, einem kalten und reißenden Gebirgsfluß. Der Sommer in diesem Jahr war besonders warm und sonnig, so daß wir uns mehr zur Lammer hingezogen fühlten.
Ein weiterer Zeitvertreib war das Herumtollen mit dem Schäferhund. Beim Ballspielen mit dem Hund passierte dann eines Abends ein Mißgeschick. Der Hund rutschte beim Zupacken des Balles mit seiner Schnauze ab und riß mir in der rechten Ellenbogenbeuge eine zwei Zentimeter lange Wunde. Auf dem Gepäckträger eines Fahrrades wurde ich zum Arzt nach Abtenau gefahren, der die Wunde mit einigen Stichen nähte. Inzwischen war es spät geworden und es bestand keine Möglichkeit mehr zur Heimkehr. Also wurde ich im Dorfspital zu zwei älteren Frauen ins Zimmer gelegt. Sie waren sehr gut zu mir und verwöhnten mich mit Kuchen. Bei meiner Rückkehr zum Mooshof erhielt ich vom Hundebesitzer als Schmerzensgeld 50 Reichsmark. So viel Geld hatte ich schon lange nicht mehr besessen. Außerdem konnte ich meine nächtliche Unterkunft verbessern. Ich bekam das Zimmer eines Sohnes, der noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war.
Eines Tages hatten wir, Walter und ich, die Tochter zu begleiten, die mit einer Kuh zum Stier mußte. Wir machten uns zu Dritt auf den Weg. Einer zog die Kuh am Strick, während der andere ab und zu mit einem Stock nachzuhelfen hatte. Der Weg war weit, denn einen Stier konnte sich nicht jeder Hof leisten. Wir wurden erwartet, und auch der Stier wußte genau was zu tun war. Ich erlebte diesen Vorgang zum ersten mal in meinem Leben, und meine Gefühle schwankten zwischen Neugier und Peinlichkeit. Wir wußten wohl, wie man sich bei Fliegeralarm zu verhalten hatte, aber eine Aufklärung über die natürlichsten Dinge im Leben waren tabu. Die einzige Aufklärung erfolgte auf der Straße und die bestand mehr aus Dichtung als Wahrheit. Die Landjugend war da zu beneiden, die mit diesem Thema
frei und unbekümmert umgingen. So hatte man sich auch auf dem Hofe nichts dabei gedacht, uns Stadtjungen mit dieser Aufgabe zu betreuen.

Von Zeit zu Zeit besuchte ich das KLV-Lager, um nicht den Rücktransport zu verpassen. Meine Mitschüler versuchten sich die Zeit unter anderem mit Skatspielen zu vertreiben, das ihnen von einem der Lehrer beigebracht worden war. Eines Tages war es soweit, und ich mußte wieder zurück ins Lager. Die Heimfahrt stand kurz bevor. Es fiel mir sehr schwer, mich vom Mooshof zu verabschieden, wo ich wie ein Sohn in die Familie aufgenommen worden war. Im KLV-Lager wurden aus unseren Kopfkissen kleine Rucksäcke genäht, damit wir dort unsere persönlichen Sachen verstauen konnten. Bald darauf trafen zwei oder drei Mütter von Mitschülern ein, die große Strapazen auf sich genommen hatten, um ihre Söhne heimzuholen. Aber auch unser Rückführungstermin war gekommen, so daß wir gemeinsam mit den Müttern aufbrechen konnten. Unter Leitung der zwei Lehrer aus dem Osnabrücker Nachbarlager ging die Fahrt zuerst nach Salzburg. Hier verloren wir den ersten Lehrer aus den Augen. An der Grenze bei Freilassing, Österreich war inzwischen wieder ein Staat geworden, wurde dem Lehrer Schumann die Einreise nach Deutschland verweigert. Es war vergessen worden, seinen Namen auf den Sammelvisumschein zu setzen. Zum Glück waren die Mütter noch bei uns. In einem geschlossenen Güterwagen ging die Reise Richtung Osnabrück los. Unerklärbare Aufenthalte machten die Fahrt zu einer zeitaufwendigen Reise. Auf den Bahnhöfen haben wir für die Amerikaner kleine Handreichungen gegen Essen gemacht. In Darmstadt stand neben uns ein Waggon mit Engländern. Auch hier versuchten wir unsere Dienste anzubieten. Als wir die Kanister mit Wasser ablieferten, haben wir vergebens auf eine Belohnung gewartet. Es wurde uns klar, daß die Engländer nicht mit den großzügigen Amerikanern zu vergleichen waren. Der Aufenthalt dauerte uns zu lange, und so beschlossen einige, zu denen ich auch gehörte, auf eigene Faust weiterzufahren. Ich ließ meinen Koffer im Wagen zurück, nachdem die anderen versprachen, das Gepäck im Osnabrücker Bahnhof abzugeben. In überfüllten Zügen schafften wir es schneller über Kassel und Hannover nach Osnabrück zu kommen. Im ganzen dauerte die Reise eine Woche.
In Osnabrück angekommen, stellte sich die bange Frage, sind die Eltern noch da und steht das Haus überhaupt noch? Mit einem komischen Gefühl im Magen bog ich von der Frankenstraße in den Stahlwerksweg ein und sah, daß die rechte Straßenseite ein Trümmerfeld war. An der linken Seite standen die Häuser noch, obwohl sie auch einen mitgenommenen Eindruck machten. Tatsächlich war das Haus Nr. 8 bewohnt, wie schnell ich die Treppe in die 3. Etage gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Nach dem Klingeln öffnete mein Vater und nach der Begrüßung waren seine ersten Worte: “Wo ist Deine Mutter?” Ich verstand seine Frage nicht sofort, aber er klärte mich schnell auf. Meine Mutter war vor ein paar Tagen ebenfalls aufgebrochen, um mich aus Abtenau abzuholen. Jetzt war ich zu Hause, und sie gondelte irgendwo auf einem Kohlenzug Richtung Süden.

Ihre Fahrt ging schneller vonstatten als unsere Heimfahrt. Für Hin- und Rückfahrt benötigte sie nur eine Woche. Als auch sie wieder in Osnabrück gelandet war, berichtete sie, daß an der Grenze bei Freilassing sie diese nicht passieren konnte. Dort lernte sie eine Krankenschwester kennen, die sich anbot, mich aus Abtenau abzuholen. Das Erstaunen war groß, als sie erfuhr, daß wir uns alle auf der Heimreise befänden. Nun waren wir alle wieder zusammen, nur der Koffer fehlte noch. Auf dem Hauptbahnhof fanden wir nur noch einen leeren Koffer. Als der Güterzug mit den restlichen Schülern vor dem Osnabrücker Bahnhof keine Einfahrt erhielt, gab es bei den Insassen kein Halten mehr, und jeder drängte so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. An die Koffer hat dabei keiner mehr gedacht. Den Verlust des Inhaltes habe ich schnell verschmerzt. Wichtiger war, daß wir alle heil und gesund den Krieg überstanden hatten.
Der Aufenthalt in einem KLV-Lager in den letzten Kriegsmonaten und der Zeit danach, war mit einem fröhlichen Ausflug in ein Schullandheim nicht zu vergleichen. Diese kurze Zeit hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Im Jahre 1958 habe ich den Ort Abtenau wieder aufgesucht. Für mich war es ein besonderes Bedürfnis, der Familie Quehenberger meinen Dank noch einmal auszusprechen.

E. H. (2008)

 

Die verschiedenen Häuser (die Fotos sind 1955 aufgenommen worden):
Das Mitterberghaus – Foto: privat; 1955 aufgenommen

 

Moisls Gastwirtschaft und Fleischerei – hier waren einige der Jungen untergebracht. Aus dem Fenster links neben dem Eingang sind einige, die meisten Ratsgymnasiasten, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 „ausgerissen“, um zurück nach Osnabrück zu gelangen – Foto: privat; 1955 aufgenommen

 

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