1. knoke-1958

Knoke, Friedrich, Dr.

Fächer: Latein / Griechisch / Geschichte / Gemeinschaftskunde

Dr. Knoke organisierte in den 60er Jahren Studienfahrten nach Italien, bevorzugt nach Florenz und Rom.

Als in den späten 50er Jahren Studeinreisen auch ins Ausland angeboten wurden, kam die Frage auf, wozu denn das diene, zumal die jungen Leute nach dem Abitur ohnehin genug reisen könnten.
Dr. Knoke hat in dieser Debatte in der Schulzeitschrift „neue realität“ ausführlich und entschieden Stellung genommen:

OBERSTUDIENRAT FRIEDRICH KNOKE NIMMT STELLUNG ZU DER FRAGE: Studienreisen – wozu?

In den vergangenen Jahren und auch in diesem Jahre führte unsere Schule mit den Oberklassen Studienreisen nach Bonn, nach Berlin, in einzelne Landschaften Deutschlands und ins Ausland durch. Diese Studienreisen sind für viele Eltern, aber auch für viele ehemalige Schüler etwas ganz Neues. Neu auch sind sie gegenüber den bisherigen Fahrten, die Jungen aller Klassen für eine kürzere Zeit in die Jugendherbergen oder Schullandheime der näheren oder weiteren Umgebung brachten und die im Schulleben bereits ihren festen Platz haben. Mit der seit Jahren zu beobachtenden Ausweitung der Schulfahrten aber haben sich mancher Vater, manche Mutter und auch die vielen Freunde unserer Schule vor die Frage gestellt gesehen: Ist das wirklich nötig? Ist es erforderlich, daß unsere Jungen 4, 8 oder gar 14 Tage ihres festen Unterrichts aufgeben, nur damit sie ein bißchen in der Gegend umherfahren oder sich gar in der Schulzeit, also außerhalb der Ferien, noch zusätzlich erholen?

Diese Fragen sind durchaus berechtigt. Sie sind um so berechtigter, als die Studienreisen ja auch zusätzlich etwas kosten, diese für sie notwendigen Ausgaben aber auch noch von den Eltern getragen werden sollen. Wir werden also vorerst sagen müssen, daß, wenn solche Fahrten von der Schule veranstaltet werden, sie zunächst einmal besondere Werte haben müssen, die im normalen Unterricht nicht vermitteltwer-den können – ist das nicht der Fall, so wären sie ja schlechthin sinnlos; und auch die zusätzliche Belastung der Eltern wäre nicht verantwortbar.

Prüfen wir einmal, worin der eigentliche Sinn, den die Schule anscheinend solchen Studienfahrten zuweist, liegen könnte oder soll. Verhältnismäßig einfach und einleuchtend wird die Antwort sein, wenn wir uns um die Sinngebung von Fahrten nach Bonn oder Berlin bemühen. Hier liegt die politische Zielsetzung klar vor Augen: Bonn wird zunächst als Sitz der Bundesregierung besucht, die Jungen sollen durch den Besuch einer Bundestagssitzung mit der Form unserer politischen Ordnung vertraut werden, also durch eigenen Augenschein belehrt werden, wie etwa ein

Gesetz zustande kommt, erfahren, wieviel ernste, verantwortungsvolle Vorarbeit in den Bundestagsausschüssen getätigt wird, bis eine Gesetzesvorlage vor das Plenum kommt, erkennen, welch große Verantwortung jeder einzelne Abgeordnete hat, und sehen, wie sich ein Gesetzesentwurf von der unterschiedlichen Haltung der einzelnen Parteien anläßt. In den Dikussionen mit Bundestagsabgeordneten oder vielleicht gar Ministern sollen sie im Anschluß an die Plenarsitzung besondere Probleme unmittelbar kennenlernen und sich die für jeden Staatsbürger notwendige politische Erfahrung und Erkenntnis verschaffen. Da unsere Gymnasiasten später einmal in leitende Stellungen in Wirtschaft und Verwaltung, Wissenschaft und Politik einrücken werden, wird ihnen hier ein politischer Einblick zuteil, der nur wenigen vergönnt ist. Daß dann bei den Besuchen Museen und Gemäldegalerien, etwa in Bonn und Köln, Erinnerungsstätten wie das Arndthaus oder u. U. Großbetriebe wie Ford in Köln oder das dortige Funkhaus „mitgenommen“ werden, und zwar unter Leitung erfahrener Lehrer oder gar besonderer Sachverständiger – ist zusätzlicher Gewinn einer solchen politischen Bildungsreise.

Was hier über Bonn gesagt wurde, gilt in entsprechender Weise auch für eine Studienreise nach Berlin, wo unsere politische Gegenwart in so eindrucksvoller Weise zu den Jungen spricht: die Fahrt durch die Zone, deren Grenze viel stärker als Grenze ins Bewußtsein tritt als die etwa des westlichen Auslandes, das zweigeteilte Berlin mit seinen vielfachen Problemen, Berlins Rolle als einstige und wiederkehrende Hauptstadt Deutschlands — die deutsche und internationale Problematik dieser „Insel der Freiheit“ wirft eine Fülle politischer Erfahrungen und Erkenntnisse ab, die der Unterricht so nicht vermitteln kann. Nehmen wir all die weiteren Gewinne hinzu, die sich aus dem Besuch der bedeutenden Theater und Museen ergeben, so ist zu sagen, daß, wenn geistige Bildung Aufgabe der höheren Schule ist, hier unseren Schülern in einer sonst nicht möglichen Weise große Leistungen des deutschen und europäischen Geistes geboten werden, die die Schule in ihrem Gebäude nicht in dieser Unmittelbarkeit vermitteln kann. Damit aber ist der unbezweifelte politische

Gewinn einer solchen Reise nach Berlin bereits überhöht zu dem umfassenderen Eindruck eines Bildungserlebnisses, das, vorbereitet durch den Unterricht, nun erst zu voller Ausreifung kommt. Mit dieser Sinngebung aber befinden wir uns in bester deutscher und abendländischer Tradition: Immer schon war es so, daß die große Bildungsreise für junge Menschen den Abschluß ihrer „Lehrzeit“ bringen sollte.

IV.

Damit ist der Punkt erreicht, von dem aus nunmehr die Bedeutung unserer Auslandsreisen erhellt werden kann. Nehmen wir auch hier das politische Moment zuerst. Wir Deutschen waren so oft in unserer Geschichte sehr schlechte Psychologen, wenn es um die Beurteilung fremder Völker ging: Der Italiener war schlechthin „faul“ oder „schmutzig“, der Franzose der „Erbfeind“, der Engländer der „Heuchler“, der von der Bibel sprach und die Baumwolle meinte, und der Holländer galt so oft als der wohlgenährte Fettwanst, der in gutem Essen und Trinken seinen ganzen Lebensinhalt sah. Daß Italien ein außerordentlich fleißiges und intelligentes Volk aufweist, der Durchschnittsfranzose ebenso liebenswürdig wie friedfertig ist, der Engländer für die abendländische Philosophie und die modernen Staats- und Wirtschaftsformen Vorbildliches erdacht und geleistet hat, war ebenso vergessen wie die Tatsache, daß Holland eines der blühendsten Kolonialreiche besaß und eine vorzügliche Verwaltung hatte. Ursache für dieses oft von verheerenden Folgen begleitete Versagen in der politischen Psychologie war die Unkenntnis des Auslandes bei den Deutschen. Und das Ausland lernt man in all seinen Problemen nur kennen, wenn man eben einmal da war. Die Schule hat in der Vergangenheit auch ein Teil Schuld, als sie zu sehr zu nationaler Enge und einem nichtfundierten Nationalbewußtsein hinführte. Das ist heute anders geworden: Die höhere Schule führt ihre Jungen und Mädel auf Bildungsreisen über die Grenzen – wenn es noch nicht alle Klassen der Oberstufe sind, so deshalb, weil z. T. die Erfahrungen noch ausgebaut werden müssen und man sich von verantwortungsbewußter Seite scheut, etwas zu tun, was schlecht vorbereitet ist und schlecht durchgeführt wird. Doch die Erfahrungen wachsen, und ebenso die Zahl der Studienreisen deutscher Gymnasiasten ins Ausland.

Sprachen wir so von der Blickweitung des Schülers, der das ganz fremde Volk unter sachkundiger, verantwortlicher Leitung als politisches Problem erlebt, so ist weiter der geistigbildende Gewinn, der oft noch größer ist, zu betonen. Gewiß, die Schule zeigt Werke großer Maler, großer Musiker, großer Architekten in mannigfachen Reproduktionen, weist geschichtliche Linien auf, bespricht Landschaften und Räume – und doch müssen wir Pestalozzi recht geben, der als Fundament jeden Unterrichts die Anschauung nennt. Einmal in ihrem Schulleben, in der 12. oder 13. Klasse, sollen die Jungen das, was sie theoretisch gelernt haben, an einem exemplarischen Fall anschaulich erleben und erkennen: die andere geologische und geographische Struktur eines Raumes, die daraus sich ergebenden Folgen für das Ineinander verschiedener Bevölkerungen, für die Siedlungsformen, für die beginnenden geschichtlichen Prozesse, für die politische Gestaltung, aber ebenso erfahren, aus welchen Ursachen sich diese oder jene große künstlerische Gestaltung gerade hier einstellen mußte. In der Erkenntnis des Gegensatzes zu unserem Volk und in der Aufspürung des Gemeinsamen wird eine geistige Schulung ermöglicht, die der Schulunterricht in dieser Einmaligkeit und Vollkommenheit nicht zu bieten vermag.

V.

Aber nun wird der Einwand folgen: Das aber können die Jungen ja auch noch nach ihrer Schulzeit alles besuchen und sich aneignen. Dieser Einwand mag zunächst richtig scheinen, erweist sich aber bei näherer Prüfung doch als nur bedingt stichhaltig. Wenn man sieht und einmal überprüft, wie gereist wird, wird man begreifen, was wir hier meinen: Viele Jungen machen in den Ferien eigene Fahrten, und doch sind die meisten dieser Fahrten vom Bildungsmäßigen her wenig ergiebig. Es besagt gar nichts, daß ein Junge in Paris oder Rom, in Finnland oder gar Marokko war, entscheidend ist, wie er den Auslandsaufenthalt erlebte. Die höhere Schule erzieht im Gegensatz zu den Fahrtenbünden der Jugend nicht zum Abenteuer, sondern zu bewußtem Sehen und Erkennen. Richtet die Schule Studienreisen aus, und übernehmen erfahrene Lehrer mit ihrem Blick für das Wesentliche und Bedeutende die Leitung solcher Reisen, so ist ihr Anliegen, die Technik des wissenschaftlichen Reisens zu lehren, d. h. ganz schlicht: die jungen Menschen zu richtigem Sehen und Erkennen zu führen. Für den Lehrer sind die Vorbereitung und Leitung einer solchen Studienreise nicht Erholung und Entspannung, sondern eine weit stärkere Belastung und ein weit größerer Aufwand an Arbeit und Sorge, als es der „normale“ Schuldienst ist: Er steht von frühmorgens bis in den späten Abend in der ständigen geistigen Anspannung der rechten Auswahl, der rechten Führung und der rechten Deutung des mannigfach Erlebten.

Hat aber so der junge Mensch einmal erfahren, wie man nicht nur reisen kann, sondern reisen soll, so hat er damit eine Grundform menschlicher Erfahrung vermittelt erhalten. Die Bestätigung für die Richtigkeit dieser Feststellung erfährt man immer wieder aus den Lebensläufen der Abiturienten, die oft die Studienreisen als den stärksten Gewinn ihrer Ausbildung hervorheben, und in den Gesprächen ehemaliger Schüler. Kann es für den Lehrer eine schönere Bestätigung geben?

Quelle: „neue realität„, Heft 2, November 1958

Anm.: Hier kursiv gesetzter Text ist im Original g e s p e r r t gedruckt.

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