Krieg und Kriegsende

Es besteht kein Zweifel daran, dass die nationalsozialistische Herrschaft unsere Schule an der Lotter Straße – wie alle anderen Bildungseinrichtungen auch – politisch, ideologisch und organisatorisch nachhaltig geprägt hat. Die Umbenennung des Realgymnasiums in Deutsche Oberschule im Jahre 1937 bzw. Staatliche Oberschule für Jungen im Jahre 1941 ist dafür nur ein äußeres, aber augenfälliges Indiz (auch das Ratsgymnasium wurde entsprechend umbenannt in Ratsoberschule).

Unstrittig ist auch, dass die nationalsozialistische Lehre Eingang in Unterrichtsinhalte und Lehrbücher fand. Die von Bettina-Carola Fischer dokumentierten Prüfungsprotokolle geben darüber beredt Auskunft. Zudem kann kaum übersehen werden, dass zahlreiche Lehrer der Staatlichen Oberschule Mitglieder der NSDAP oder zumindest des NS-Lehrerbundes geworden waren, ob aus Überzeugung oder aus opportunistischen Gründen, sei dahingestellt. Wenn in der Rückschau dennoch der Unterricht als frei „von Willkür und Einflussnahme der Nationalsozialisten“ geschildert wird und dabei zwei Begebenheiten als Beispiele genannt werden, so zeigt das im Umkehrschluss erst recht, wie stark die Einflussnahme tatsächlich gewesen ist, wenn diese beiden Begebenheiten so stark in Erinnerung geblieben sind:

„Trotzdem brauchten wir unseren Lehrern nicht nach dem Mund zu reden, und das galt auch umgekehrt. Weit entfernt von Willkür und Einflussnahme der Nationalsozialisten zwei Begebenheiten: Unser Geschichtslehrer verglich die militärische Lage Deutschlands im Jahr 1943 mit der des Ersten Weltkriegs; die Schlussfolgerungen für den Ausgang sollten wir selbst ziehen. Es erhob sich kein Widerspruch, und denunziert wurde er auch nicht. Unser Lateinlehrer vermochte die Klasse nur schwer zu disziplinieren, einmal in Rage bezeichnete er uns als „HJ-Führerschweine“. Glauben Sie nicht, dass er angezeigt worden wäre. Es mag schwer vorstellbar sein, aber Toleranz und Humanitas sind an unserer Schule während der NS-Zeit nicht verloren gegangen.“ (Herman Gehring, NOZ, 16.1. 2004)

Die Einflussnahme auf das Schulleben erfolgte zudem nicht einmal in erster Linie über den Lehrkörper und die Lehrbücher, sondern zumeist über die Jugendorganisation der NSDAP, die Hitlerjugend (HJ). Unter deren maßgeblicher Beteiligung wurden auch die Kinderlandverschickungen in nicht vom Bombenkrieg bedrohte Gebiete durchgeführt. Für die Staatliche Oberschule wurden insgesamt vier KLV-Lager eingerichtet: bei Trautenau im Riesengebirge (Tschechoslowakei), in Bresnitz in der Nähe von Prag (Tschechoslowakei), auf Schloss Eerde in der Nähe von Zwolle (Niederlande) und in der Nähe von Salzburg. Die Teilnahme war im Prinzip freiwillig, es wurde aber durchaus auch ein moralischer Druck ausgeübt, so dass nur wenige Schüler bei ihren Eltern resp. ihren Müttern blieben. Neben dem Unterricht standen in den KLV-Lagern auch Geländespiele, vormilitärische Übungen und politische Schulungen auf dem Programm.

Die in Osnabrück verbliebenen Oberschüler wurden in Sammelklassen an der Ratsoberschule unterrichtet, sofern dies bei den immer häufiger erfolgenden Bombenangriffen möglich war. Manchmal mussten die Schüler mehrmals an einem Vormittag in die Luftschutzkeller der Schule gehen, gelegentlich wurden sie auch gleich wieder nach Hause geschickt. Der einschneidendste Eingriff in den Schulalltag war die Zerstörung der Schule durch eine Brandbombe am 10. August 1942. Danach wurde das Gebäude u.a. als Materiallager bzw. als Unterbringung für Zwangsarbeiter genutzt. Das Abitur des Jahres 1945 mit Hans Ludwig Fink als einzigem Prüfling wurde im Hausmeisterzimmer der Oberschule an der Lotter Straße abgenommen und musste mehrfach wegen Bombenalarms unterbrochen werden (ema-report 2005, S. 56-59).

Auch nach Kriegsende konnte der Schulbetrieb erst zu Beginn des Jahres 1946 wieder vollständig aufgenommen werden. Aber es fehlte an allem: an Büchern, an Papier, an Tischen, an Stühlen, an Heizmaterial und nicht zuletzt auch an Lehrern. Im Winter musste der Unterricht häufig ausfallen, weil die Klassenräume zu kalt waren. Die Schüler brachten ihre eigenen Tische und Bänke mit und stellten sich nach Abschriften von der Tafel ihre eigenen Lehrbücher zusammen. Heinz Sollmann hat uns ein Exemplar seines „Mathebuches“ zur Verfügung gestellt: Aus dem nicht mehr zugelassenen Buch „Mielert: Urväterland“ wurden die Seiten herausgerissen und stattdessen die – auch heute noch gut lesbaren – Abschriften von der Tafel eingeheftet.
Die erste Abiturentlassung fand 1947 im Lutherhaus statt. Prof. Dr. Dr. Harding Meyer, einer der damaligen Abiturienten, sagte dazu auf der Abiturentlassungsfeier 1997: „Ein Abitur in einer plötzlich radikal veränderten politischen und gesellschaftlichen, geistigen und kulturellen Welt. Und wir stolperten damals – verwirrt und fasziniert zugleich – durch diese veränderte und unvertraute Landschaft.“ (ema-report 1997, S. 10)

Als wesentlicher Schritt zur Normalisierung wurde Hans-Jürgen Knoke (Abitur 1950) zufolge bereits die Aufführung einiger Teile aus Goethes „Torquato Tasso“ in der Schulaula empfunden (ema-report 2000, S. 131). Die äußeren Umstände sind das eine, die geistige Verunsicherung das andere. Dr. Heinrich Boge (Abitur 1951 – richtig: 1949; corr. h.b-w), der sich selbst in den schulinternen Diskussionen nach dem Krieg zu den „Unverbesserlichen“ rechnet, schreibt, er sei nach der Lektüre eines Buches über den Nationalsozialismus (vermutlich „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon), das ihm Studienrat Otto Papenhausen empfohlen hatte, verzweifelt gewesen, „ernüchtert und dann voller Wut auf mich selbst, auf die ganze Welt. In mir entstand eine Leere; jetzt glaubte ich an nichts mehr. […] Studienrat Papenhausen bin ich auch heute noch dankbar.“ (ema-report 2005, S. 60)
Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob diese Verunsicherung und Verzweiflung zu verallgemeinern ist. Dass von einer solchen Verunsicherung damals sowohl Lehrer als auch Schüler in unterschiedlicher Weise betroffen waren, liegt auf der Hand. Daher gehört es zu den Verdiensten der Schule im Allgemeinen, aber auch unserer Schule im Besonderen, dass diese Verunsicherung nicht zu Verzweiflung und Resignation führte, sondern dazu verwandt werden konnte, am Aufbau eines demokratischen Staatswesens mitzuwirken. Dass aus dem verzweifelten jungen „Hein“ Boge später der Präsident des Bundeskriminalamts wurde, spricht für sich. An Lehrern wie Otto Papenhausen, an den sich auch andere Ehemalige immer wieder als besondere Persönlichkeit erinnern, wird deutlich, dass Schule mehr ist als eine Anstalt zur Vermittlung von Wissen, sondern Orientierung bieten und Raum geben soll zur Persönlichkeitsentfaltung. Dies ist die Brücke, die wir Nachgeborenen zu der Zeit nach 1945 schlagen können.

125 Jahre Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. Versuch einer Standortbestimmung aus historischer Sicht (ein Artikel aus der Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum 1992)

Der vollständige Aufsatz liegt hier als PDF-Dokument vor.

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