Toleranz und Humanitas an unserer Schule nicht verloren gegangen

Ein Leserbrief über Schüler und Lehrer während des “Driten Reichs”:

Leserbrief zur Doktorarbeit von Bettina-Carola Fischer, die das Umfeld des Abiturs in der Region Osnabrück während der NS-Zeit untersuchte (“Geprüft wurden Gesinnung und Rassenideologie”, Ausgabe vom 31. Dezember).

“Frau Fischer hat die Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehungsideologie an drei Gymnasien unserer Region untersucht. Ich kann nur sagen, ich habe es anders erlebt. Herkunft und Rasse zur Grundlage höherer Schulbildung, abgeleitet aus der NS-Ideologie und Hitlers “Mein Kampf” und zum Werteprinzip erhoben? Die offizielle Leseart der Akten im Niedersächsischen Staatsarchiv mag dies belegen. Die Wirklichkeit an unserer Schule sah anders aus. Ich war von 1942 bis 1945 Schüler der Staatlichen Oberschule für Jungen in Osnabrück (heute Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium) und erhielt im Februar 1945 mit meiner Einberufung zum RAD* das Abschlusszeugnis von der Schule. In unserer Klasse waren zuletzt fast ausschließlich Jungvolk- und HJ-Führer, während unsere gleichaltrigen Mitschüler als Flakhelfer Dienst taten.
Trotzdem brauchten wir unseren Lehrern nicht nach den Mund zu reden, und das galt auch umgekehrt. Weit entfernt von Willkür und Einflussnahme der Nationalsozialisten, zwei Begebenheiten: Unser Geschichtslehrer verglich die militärische Lage Deutschlands im Jahr 1943 mit der des Ersten Weltkriegs; die Schlussfolgerungen für den Ausgang sollten wir selbst ziehen. Es erhob sich kein Widerspruch, und denunziert wurde er auch nicht. Unser Lateinlehrer vermochte die Klasse nur schwer zu disziplinieren, einmal in Rage bezeichnete er uns als “HJ-Führerschweine”. Glauben Sie nicht, dass er angezeigt worden wäre. Es mag schwer vorstellbar sein, aber Toleranz und Humanitas sind an unserer Schule während der NS-Zeit nicht verloren gegangen.”

Hermann Gehring
Waldstraße 5
Bad Rothenfelde

Anmerkung:
*RAD: Reichsarbeitsdienst

NOZ – Freitag, 16. Januar 2004, Leserbriefe

 

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