Abiturjahrgang 2000

Abraham, Angelina; Becker, Natalia; Berger, Katja; Bertino, Claudio; Beslaga, Elma; Buchholz, Christian; Dandörfer, Olga; Dederer, Sergej; Deicke, Martin; Drus, Dimitrij; Edmonds, Patricia; Eisner, Vivian; Fischer, Helena; Frankenberg, Christian; Frankenberg, Eike Christoph; Gendlin, Boris; Güntner, Anna; Havergo, Katrin; Hüfmeyer, Marc; Kallmeyer, Svenja; King, Mark; Kisi, Melehat; Klages, Tina; Lampe, Mark; Linke, Dennis; Luft, Helene; Marques dos Santos, André; Meier, Dimitri; Mentrup, Kathrin; Mönkediek, Stephan; Nein, Olesja; Oesterle, Sven; Pöppelmann, Simone; Poluschkina, Swetlana; Radicke, Anna; Riepe, Philipp; Robbe, Julia; Rogner, Carolin; Schinkel, Katja; Schmies, Verena; Schneider, Nina; Schulhof, Linda-Marie,; Schulz, Solveig; Schweizer, Helena; Spelten, Claudia; Steinhauer, Ludmilla; Stockmann, Korina; Thöle, Mira; Thye, Marco; Wawrzenczak, Klaudia; Wischmeier, Tanja; Wulf, Claudia

Ein Jahrgangsfoto liegt nicht vor.

Reden:

Begrüßung: Schulleiter Hartmut Bruns
Für die Schule: Ute Ranke

 

Liebe Jubiläumsabiturienten, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Angehörige, Freunde und Gäste, liebe Abiturientinnen und Abiturienten.
Ich begrüße Sie recht herzlich zu unserer diesjährigen Feier zur Entlassung unserer Abiturientia2000.
Liebe Jubiläumsabiturienten, Sie, die Sie vor 25 oder 50 Jahren am EMA – wenn auch nicht in diesem Gebäude – ihr Abitur abgelegt haben, habe ich schon vorhin in der Bibliothek herzlich willkommen geheißen. In diesem Augenblick möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie an dem Tag, der jedes Jahr auf ein Neues für unsere Abiturientinnen und Abiturienten Abschluss, Besinnung und Zäsur gleichermaßen beschreibt, Verbundenheit mit Ihrer alten Schule dokumentieren.
Den Abiturientinnen und Abiturienten 2000 ist natürlich nur nach Aufbruch, nach Abschütteln der empfundenen Fesseln, nach Verlassen der Schule zumute. Sie, liebe Ehemaligen, dokumentieren mit Ihrer Anwesenheit, dass man Schule, die eigene Schule, ein Leben lang nicht ganz los wird. Diese Schule, das EMA – damals noch Staatliche Oberschule für Jungen – hat Sie geprägt und deshalb gehört sie zu Ihrer Identität. Die anekdotischen Erinnerungen an Ihre Lehrer sind dabei nur das nach außen Mitteilbare. Das, was Bildung heißt, – die Entfaltung des Geistes, die Schulung des Verstandes, – dies lässt sich nicht so leicht darstellen. Das ist ein Schatz, den jeder Einzelne von Ihnen in sich trägt und durch den jeder von Ihnen zur Persönlichkeit gereift ist, und dass sie zu Persönlichkeiten heranreifen, erhoffen wir uns für die jungen Menschen, die heute vor uns sitzen.
Liebe Eltern, mit Ihnen hat uns Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule ein langer Weg verbunden. Mindestens 3, meist aber 7 oder sogar 8 Jahre, haben Sie mit Sorge, manchmal mit Ängsten auf die Entwicklung Ihrer Kinder geschaut. Sie haben versucht, diese Entwicklung zu beeinflussen. Dabei haben Sie Schule sicherlich häufig als Störfaktor im häuslichen Frieden empfunden, hoffentlich manchmal aber auch als Helfer. Manchmal hatten wir gemeinsame Ziele, manchmal kam es zu Differenzen. Viele von Ihnen haben aber ihren Kindern geholfen, Schule als sinnvolle, für die Zukunft zentrale Lebensphase zu erleben und haben die Lehrer unseres Gymnasiums ermutigt, sich als Partner in einem gemeinsamen Erziehungsprozess wahrzunehmen. Liebe Eltern – ich weiß nicht, ob Ihre Kinder es schon getan haben – ich zumindest danke Ihnen von ganzem Herzen für die fürsorgliche Begleitung, für die Geduld und für die Liebe, die Sie Ihren Kindern, unseren Abiturientinnen und Abiturienten, auf dem Weg des Erwachsenwerdens haben zuteil werden lassen. Meinen Kolleginnen und Kollegen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des EMA gilt auch in diesem Jahr mein ganz besonderer Dank für die weit über das normale Maß hinaus geleistete Arbeit Sie haben viel Energie und Gewissenhaftigkeit, Wissen und oft Großherzigkeit eingesetzt, damit die Schülerinnen und Schüler, die wir heute verabschieden, ihr Abitur errreichen konnten. Ich sehe es täglich, wieviel Kraft und Zeit dieser Weg kostet, und dass Engagement und Zuwendungsfähigkeit immer neu auf der Probe stehen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich weiß, Sie erwarten keinen Dank für Selbstverständlichkeiten und Sie wissen auch, dass es jungen Menschen oft schwerfällt, sich zu bedanken, denn – war man erfolgreich, so lag es an einem selbst, nur Misserfolge sind selbstverständlich den Lehrern anzulasten. Ich möchte Ihnen aber coram publico sagen: es verdient Dank und Anerkennung, wie sich die Mehrzahl von Ihnen für die heute zu entlassenen Schülerinnen und Schüler eingesetzt hat. Das gilt insbesondere auch für Sie, Herr Jonas, der Sie als Jahrgangskoordinator unseren diesjährigen Abiturientinnen und Abiturienten immer mit großer Kompetenz und viel Empathie zur Seite gestanden haben.
Last but not least, liebe Abiturientia 2000.
Sie sind die ersten, die in diesem Jahrtausend von Bord der Emanic gehen. Sie sind die Protagonisten des heutigen Tages.
Das „Gefängnis Schule“ öffnet seine Tore. „Das ist jetzt der Anfang vom richtigen Leben“, sagte mir im letzten Jahr eine Abiturientin. Mit einem berauschenden Gefühl der Befreiung, aber auch der bestätigten Leistungen verlassen Sie das EMA und planen nun Ihre persönliche Zukunft. Das nächste Stück Ihres Lebensweges müssen Sie alleine gehen, selbstverantwortet, nicht fremdbestimmt. Ihre Zukunft ist aber zumindest partiell ungewiss; es gibt gerade in der heutigen Zeit keine eindeutigen Orientierungen, keine scharf umrissenen Zielvorstellungen. Was soll ich Ihnen als Ihr Schulleiter in einem kurzen Grußwort für diese Zukunft wünschen? Was soll ich Ihnen sozusagen als Wegzehrung mit auf den Weg geben?
Drei Dinge möchte ich nennen:
1. Ich bin nach inzwischen 23 Dienstjahren zu der Auffassung gelangt, dass menschliche Qualitäten wie Offenheit, Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Toleranz und bestimmte bürgerliche Tugenden wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Pflichtbewusstsein und Hilfsbereitschaft ebenso wichtig sind wie fachliches Können, hohe Intelligenz oder eine umfassende Bildung.
2. Martin Luther King hat einmal gesagt: „Wir haben gelernt wie Vögel zu fliegen und wie Fische zu schwimmen, aber wir haben verlernt wie Menschen zu leben.“
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten! Lernen Sie wie Menschen zu leben!.
3. Ich wünsche Ihnen neben einer starken Gesundheit, ohne die nichts geht, neben einer großen Portion Mut und einer positiven Beharrlichkeit, die Sie benötigen, um zentrale Probleme unserer Gesellschaft zu lösen, eine tiefe und feste Zuversicht, die Sie in die Lage versetzt, Ihre persönliche Zukunft zu meistern. Möge Ihnen Gott dabei helfen.
Ich wünsche uns allen eine schöne Abiturfeier.

aus: EMA-Report 2000, S. 27f.

 

 
Für die Schule: Ute Ranke

Liebe Abiturienten 2000
Sie haben mich um ein paar freundliche Worte zum Abschied gebeten – also nichts von Leistungen und Ergebnissen, sondern für Sie und auch von Ihnen soll die Rede sein. Kurz vor dem Aufbruch von hier möchte ich zu Ihnen von Aufbruch und Beharrung, vom Wandern und vom Reisen sprechen.

Wie froh bin ich, daß ich weg bin!
So fängt einer der skandalösesten Romane der europäischen Literatur an, Goethes Leiden des jungen Werthers. Dieser junge Mann, der mit diesen Worten die lange Reihe seiner Briefe an den Freund Wilhelm eröffnet, hat sich losgemacht von beengenden familiären und bürgerlichen Zwängen, er hat „das Weite gesucht“, wenn man so will, er sucht überhaupt: ideale Lebenszustände und Selbstverwirklichung.- Die Geschichte geht böse aus, aber das in diesem Roman geäußerte Grundbedürfnis nach der Luft der persönlichen Freiheit und Entgrenzung, statt der Beharrung und Beschränkung der Sesshaften, Alteingesessenen, die mit Bodenhaftung in jeder Hinsicht leben, das fasziniert noch heute.
Der junge Goethe verabscheut Beharrung, Verbleiben an einem Standort ebenso wie auf einem Standpunkt. Er wird in dieser Epoche von seinen Freunden „der Wanderer“ genannt, ist ständig zu Fuß unterwegs, geistig auch, auf rücksichtsloser, unbestimmter Suche. In seinem Gedicht An Schwager Kronos verschmelzen eine tatsächlich erlebte reale Reisesituation und fiktive Lebensreise. Stellen Sie sich so eine damalige Reise vor: Ein „Schwager“, also der Postillon, lenkt seine Kutsche, ein ziemlich zerbrechliches Gefährt immerhin! durch ein recht unwegsames Gebirge. Dabei wird er vom Dichter, der ihn Kronos, also: Gott der Zeit, nennt, angefeuert zu halsbrecherischer Abfahrt, die Sprache gibt die gewünschte Geschwindigkeit vor, gerät dabei völlig aus den Fugen und es entsteht so etwas wie „Speed“, das Tempo, das eigentlich unsere heutige Zeit charakterisiert:

Spude dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg;
Ekles Schwindeln zögert
mir vor die Stirne dein Haudern (Zögern)
Frisch den holpernden
Stock Wurzeln Stirne den Trott
Rasch in ’s Leben hinein!

Rasch ins Leben hinein! Aufbruch, Geschwindigkeit, Ungeduld, so ist auch das Lebensgefühl zu Anfang des 3. Jahrtausends unseres Kulturkreises.
Die Multimedia-Effekte in den Pavillons der westlichen Industrienationen und „Themenparks“ auf der EXPO zeigen es uns: Bilder, „Visionen“ genannt, fahren vor uns auf, stürzen auf uns ein, vermitteln Geschwindigkeit, Progression. Mitgerissen und bewegt werden wir – zum Verweilen, zur Betrachtung ist dies nicht der Ort.

Um so mitzukommen, sind auch Sprache und Lebensgefühl im Jahre 2000, dem angestrebten Lebenstempo entsprechend, oft light. Beweglichkeit wird hier durch leichtes Reisegepäck angestrebt. Das ermöglicht, leicht, „flockig“, eben unbeschwert, über alles zu reden, wie es uns unsere Unterhaltungssender vormachen.
So easy und flott sind auch viele Beitrage in Ihrer Abizeitung, während andere bedächtige und bedachte Formulierungen offensichtlich Zeit atmen.
Geht das noch, angesichts der neuen Anforderungen, angesichts des steigenden Tempos, der verlangten Flexibilität, kurz: des allenthalben beschworenen Aufbruchs?

Aufbruch: Ganz unmetaphorisch, ganz konkret haben gerade wir an unserer Schule viele junge Leute unter uns, die den großen Aulbruch, den die anderen, die Hiesigen, noch vor
sich haben, schon wagen mussten. – Auf Ihren Plätzen hegt eine Karikatur, die ich von der EXPO mitgebracht habe, als ich, von Multimedia und Speed erschöpft, im Christuspavillon einen Augenblick Ruhe fand:
Wir sehen einen Menschen aus ungewöhnlicher Perspektive. Er bewegt sich fort von uns, mit leichtem Gepäck. Sein Ziel sehen wir nicht: Nur weg von hier! Übergroß ist das, was ihn trägt, seine Füße, und aus unserer ungewöhnlichen Perspektive können wir auch erkennen, wie sehr ihm das Fortschreiten, Schritt für Schritt beschwerlich sein muss, denn ihn hindern die vielen Wurzeln unter seinen Füßen. Von ihnen hat er gelebt bisher, hatte er doch einen Standort, der ihm Halt gab und Kraft.

– Wie lange kann dieser Mensch leben ohne anzuwurzeln?
– Wird die Anwurzelung anderswo gelingen?
– MUSS er erneutes Losreißen fürchten?

Eines kann der so gesehene Mensch nicht: seine Wurzeln einfach kappen. Sie sind ihm als Festigkeit und Kraft spendende Organe unentbehrlich, und sie modifizieren in sehr eigener Weise die Aufnahme des Neuen.

Konkret:
a) Wenn in einer Unterrichtsreihe über Naturlyrik im Epochenvergleich Brockes eher sperriges Gedicht Kirschblüte bei Nacht von einem der Kursteilnehmer unter dem ganz persönlichen Eindruck: K a s a c h s t a n ! gewählt wird, dann ist das zwar keine begründende Darlegung im geforderten schulisch-rationalen Sinne, aber: Le coeur a des raisons que la raison ne connait pas, formulierte Pascal, Philosoph, aber auch berühmter Mathematiker und Physiker: Das Herz macht andere Gründe geltend als der Verstand.

b) Es ist auch wenig sinnvoll, geradezu absurd, wenn ein todmüder kleiner Tiger den todmüden kleinen Bären beim Wandern im Wald auffordert: „Komm, kleiner Bär, ich trag dich ein Stückchen … und wenn ich müde werde, dann trägst du mich wieder ein Stückchen… „ Wenn wir die Logik des Herzens einschalten, verstehen wir das aber ganz gut, und zwar beide Gruppen, die Hiesigen und die Zugewanderten. Aber nur den Hiesigen, die damit aufgewachsen sind, stellen sich zugleich damit die Bilder aus Janoschs Kinderbuch vor Augen und untrennbar davon auch die Gefühle, die sie als Kinder bewegten, wie dem jungen Mann bei der unerwartet hervorgerufenen Vorstellung der Kirschbäume in Kasachstan.

Man sieht: Der Mensch mit Wurzeln, das sind wir alle.

Wie froh bin ich, dass ich weg bin!
Rasch ins Leben hinein!

So unproblematisch und faszinierend ist es vielleicht doch nicht, sich loszureißen und wirklich aufzubrechen, denn das bedeutet, sich einer prinzipiell ungesicherten Zukunft auszusetzen. Für Euch alle wird wegen der so oft genannten „Globalisierung“ die Mobilität, ein neues altes Wort für die Bereitschaft zur Wanderschaft, mehr oder weniger zum Pflichtprogramm werden:

– Wo werdet Dir landen?
– Wie lange werden junge Leute heute warten müssen, bis sie sich binden können?
– Wann werden – wenn überhaupt- die Ausbildungen ein Anwurzeln erlauben?
– Man soll jetzt „lebenslang lernen“- wird man auch lebenslang auf dem Sprung sein müssen?

Skepsis ist also angebracht. Aber mit bloßer Skepsis sollten Sie’s auch nicht angehen! Dass die Lebensreise vielmehr ambivalent ist, Bedrohung und Chance zugleich, zeigt für mich am schönsten die kurze Parabel von Franz Kafka:

Der Aufbruch
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „ Wohin reitest du, Herr? “ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen. “ „Du kennst also dein Ziel?“ fragte er. „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch: ‚Weg-von-hier‘, das ist mein Ziel. “ „Du hast keinen Eßvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“

Ich wünsche Ihnen begegnende Menschen und Gottes Beistand.

Ute Ranke

Quelle: EMA-Report 2000, S. 29ff.

 

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