Liebe Abiturienten 2000
Sie haben mich um ein paar freundliche Worte zum Abschied gebeten – also nichts von Leistungen und Ergebnissen, sondern für Sie und auch von Ihnen soll die Rede sein. Kurz vor dem Aufbruch von hier möchte ich zu Ihnen von Aufbruch und Beharrung, vom Wandern und vom Reisen sprechen.
Wie froh bin ich, daß ich weg bin!
So fängt einer der skandalösesten Romane der europäischen Literatur an, Goethes Leiden des jungen Werthers. Dieser junge Mann, der mit diesen Worten die lange Reihe seiner Briefe an den Freund Wilhelm eröffnet, hat sich losgemacht von beengenden familiären und bürgerlichen Zwängen, er hat „das Weite gesucht“, wenn man so will, er sucht überhaupt: ideale Lebenszustände und Selbstverwirklichung.- Die Geschichte geht böse aus, aber das in diesem Roman geäußerte Grundbedürfnis nach der Luft der persönlichen Freiheit und Entgrenzung, statt der Beharrung und Beschränkung der Sesshaften, Alteingesessenen, die mit Bodenhaftung in jeder Hinsicht leben, das fasziniert noch heute.
Der junge Goethe verabscheut Beharrung, Verbleiben an einem Standort ebenso wie auf einem Standpunkt. Er wird in dieser Epoche von seinen Freunden „der Wanderer“ genannt, ist ständig zu Fuß unterwegs, geistig auch, auf rücksichtsloser, unbestimmter Suche. In seinem Gedicht An Schwager Kronos verschmelzen eine tatsächlich erlebte reale Reisesituation und fiktive Lebensreise. Stellen Sie sich so eine damalige Reise vor: Ein „Schwager“, also der Postillon, lenkt seine Kutsche, ein ziemlich zerbrechliches Gefährt immerhin! durch ein recht unwegsames Gebirge. Dabei wird er vom Dichter, der ihn Kronos, also: Gott der Zeit, nennt, angefeuert zu halsbrecherischer Abfahrt, die Sprache gibt die gewünschte Geschwindigkeit vor, gerät dabei völlig aus den Fugen und es entsteht so etwas wie „Speed“, das Tempo, das eigentlich unsere heutige Zeit charakterisiert:
Spude dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg;
Ekles Schwindeln zögert
mir vor die Stirne dein Haudern (Zögern)
Frisch den holpernden
Stock Wurzeln Stirne den Trott
Rasch in ’s Leben hinein!
Rasch ins Leben hinein! Aufbruch, Geschwindigkeit, Ungeduld, so ist auch das Lebensgefühl zu Anfang des 3. Jahrtausends unseres Kulturkreises.
Die Multimedia-Effekte in den Pavillons der westlichen Industrienationen und „Themenparks“ auf der EXPO zeigen es uns: Bilder, „Visionen“ genannt, fahren vor uns auf, stürzen auf uns ein, vermitteln Geschwindigkeit, Progression. Mitgerissen und bewegt werden wir – zum Verweilen, zur Betrachtung ist dies nicht der Ort.
Um so mitzukommen, sind auch Sprache und Lebensgefühl im Jahre 2000, dem angestrebten Lebenstempo entsprechend, oft light. Beweglichkeit wird hier durch leichtes Reisegepäck angestrebt. Das ermöglicht, leicht, „flockig“, eben unbeschwert, über alles zu reden, wie es uns unsere Unterhaltungssender vormachen.
So easy und flott sind auch viele Beitrage in Ihrer Abizeitung, während andere bedächtige und bedachte Formulierungen offensichtlich Zeit atmen.
Geht das noch, angesichts der neuen Anforderungen, angesichts des steigenden Tempos, der verlangten Flexibilität, kurz: des allenthalben beschworenen Aufbruchs?
Aufbruch: Ganz unmetaphorisch, ganz konkret haben gerade wir an unserer Schule viele junge Leute unter uns, die den großen Aulbruch, den die anderen, die Hiesigen, noch vor
sich haben, schon wagen mussten. – Auf Ihren Plätzen hegt eine Karikatur, die ich von der EXPO mitgebracht habe, als ich, von Multimedia und Speed erschöpft, im Christuspavillon einen Augenblick Ruhe fand:
Wir sehen einen Menschen aus ungewöhnlicher Perspektive. Er bewegt sich fort von uns, mit leichtem Gepäck. Sein Ziel sehen wir nicht: Nur weg von hier! Übergroß ist das, was ihn trägt, seine Füße, und aus unserer ungewöhnlichen Perspektive können wir auch erkennen, wie sehr ihm das Fortschreiten, Schritt für Schritt beschwerlich sein muss, denn ihn hindern die vielen Wurzeln unter seinen Füßen. Von ihnen hat er gelebt bisher, hatte er doch einen Standort, der ihm Halt gab und Kraft.
– Wie lange kann dieser Mensch leben ohne anzuwurzeln?
– Wird die Anwurzelung anderswo gelingen?
– MUSS er erneutes Losreißen fürchten?
Eines kann der so gesehene Mensch nicht: seine Wurzeln einfach kappen. Sie sind ihm als Festigkeit und Kraft spendende Organe unentbehrlich, und sie modifizieren in sehr eigener Weise die Aufnahme des Neuen.
Konkret:
a) Wenn in einer Unterrichtsreihe über Naturlyrik im Epochenvergleich Brockes eher sperriges Gedicht Kirschblüte bei Nacht von einem der Kursteilnehmer unter dem ganz persönlichen Eindruck: K a s a c h s t a n ! gewählt wird, dann ist das zwar keine begründende Darlegung im geforderten schulisch-rationalen Sinne, aber: Le coeur a des raisons que la raison ne connait pas, formulierte Pascal, Philosoph, aber auch berühmter Mathematiker und Physiker: Das Herz macht andere Gründe geltend als der Verstand.
b) Es ist auch wenig sinnvoll, geradezu absurd, wenn ein todmüder kleiner Tiger den todmüden kleinen Bären beim Wandern im Wald auffordert: „Komm, kleiner Bär, ich trag dich ein Stückchen … und wenn ich müde werde, dann trägst du mich wieder ein Stückchen… „ Wenn wir die Logik des Herzens einschalten, verstehen wir das aber ganz gut, und zwar beide Gruppen, die Hiesigen und die Zugewanderten. Aber nur den Hiesigen, die damit aufgewachsen sind, stellen sich zugleich damit die Bilder aus Janoschs Kinderbuch vor Augen und untrennbar davon auch die Gefühle, die sie als Kinder bewegten, wie dem jungen Mann bei der unerwartet hervorgerufenen Vorstellung der Kirschbäume in Kasachstan.
Man sieht: Der Mensch mit Wurzeln, das sind wir alle.
Wie froh bin ich, dass ich weg bin!
Rasch ins Leben hinein!
So unproblematisch und faszinierend ist es vielleicht doch nicht, sich loszureißen und wirklich aufzubrechen, denn das bedeutet, sich einer prinzipiell ungesicherten Zukunft auszusetzen. Für Euch alle wird wegen der so oft genannten „Globalisierung“ die Mobilität, ein neues altes Wort für die Bereitschaft zur Wanderschaft, mehr oder weniger zum Pflichtprogramm werden:
– Wo werdet Dir landen?
– Wie lange werden junge Leute heute warten müssen, bis sie sich binden können?
– Wann werden – wenn überhaupt- die Ausbildungen ein Anwurzeln erlauben?
– Man soll jetzt „lebenslang lernen“- wird man auch lebenslang auf dem Sprung sein müssen?
Skepsis ist also angebracht. Aber mit bloßer Skepsis sollten Sie’s auch nicht angehen! Dass die Lebensreise vielmehr ambivalent ist, Bedrohung und Chance zugleich, zeigt für mich am schönsten die kurze Parabel von Franz Kafka:
Der Aufbruch
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „ Wohin reitest du, Herr? “ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen. “ „Du kennst also dein Ziel?“ fragte er. „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch: ‚Weg-von-hier‘, das ist mein Ziel. “ „Du hast keinen Eßvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“
Ich wünsche Ihnen begegnende Menschen und Gottes Beistand.
Ute Ranke
Quelle: EMA-Report 2000, S. 29ff.