Abiturjahrgang 2001

Bartuli, Olga; Butwilowski, Anastasia; Dachtler, Woldemar; Dederer, Aljona; Degner, Agnes; Deibert, Reimar; Djurić, Adrijana; Esch, Jana; Fain, Maxim; Fink, Vitali; Giersch, Joana; Gödker, Jana; Großheide, Florian; Grothaus, Maren; Havergo, Katrin; Hösel, Christoph; Horn, Dina; Ilić, Manoela; Kachel, Vanessa; Karow, Marius; Kipke, Ludmilla; Kletsel, Dimitrij; Kock, Daniela; Kufahl, Kerstin; Lingemann, Matthias Andrè; Liu, Ka Yee; Lütkemöller, Florian; Maier, Julia; Miller, Julia; Mitchell, Danielle Denise; Mosmann, Kristina; Mutilowitsch, Andreas; Nowak, Julia; Paladey, Esther; Pankratz, Natalia; Paradowski, Apolonia; Piaszenski, Sarah-Rikje; Pleger, Isabel; Prugow, Wladislaw; Radicke, Julia; Roleder, Marina; Samorodnytska, Irina; Schäfer, Andreas; Schinkel, Katja; Schmid, Ursula; Schmies, Verena; Seidens, Andreas; Sparaga, Alexandra; Sieling, Julia; Strangmann, Tim; Veitenheimer, Rafael; Volmer, Anna; Vugner, Diana; Wagner, Alexander; Wagner, Katharina; Welz,Thorsten; Wolf, Roman; Zaslavska, Viktoria; von Westenholz, Karl

Ein Jahrgangsfoto liegt nicht vor.

Die Reden:

> Begrüßung: OStD Hartmut Bruns
> für die Ehemaligen: Prof. Dr. Heinrich Weber
> für die Eltern: Birgit Strangmann
> für die Schule: Dr. Friedemann Neuhaus
> für die Abiturientinnen und Abiturienten: Reimar Deibert

Für die Eltern: Birgit Strangmann

Gedanken zum Abitur 2001

Wir Eltern kennen, ja durchleben sie mit, die Lebensabschnitte unserer Töchter und Söhne:
das fängt ganz klein an mit dem ersten Lachen, dem ersten Wort und dem ersten Schritt in ein aufregendes Leben.
Ich glaube, wir sind ebenso aufgeregt wie unsere Kinder, wenn sie zum ersten Mal in den Kindergarten gehen. Der erste Schultag mit neuem Tornister und gut gefüllter Schultüte eröffnete nicht nur unseren Kindern eine Welt des Lernens … nein, auch wir Eltern mussten lernen, zwar unterstützend immer da zu sein, aber auch loszulassen und die Selbständigkeit zu fördern.

Nach der Orientierungsstufe die Wahl der richtigen Schulform, des geeigneten Gymnasiums – dieser Schritt sollte wohlüberlegt sein. Denn eine Schule ist nicht nur sozialer Mittelpunkt, sondern muss auch unsere Töchter und Söhne auf die Anforderungen einer sich schnell wandelnden Gesellschaft und Arbeitswelt vorbereiten.

In der von zunehmender Individualisierung und Desintegration gekennzeichneten Gesellschaft wächst die Bedeutung der sozialen Integrationskraft der Schule.

Herauszuheben sind an dieser Stelle die Möglichkeiten für unsere Töchter und Söhne, an der Europaschule Ernst-Moritz-Arndt neben den genannten kleinen und großen Schritten auch die multikulturellen Schritte aus anderen Kulturkreisen, das gelungene tägliche tolerante Miteinander, die Austauschfahrten mit unseren befreundeten Schulen, der bilinguale Unterricht, die Aktivitäten im Bereich Musik, Theater, Sport usw. Wir Eltern wissen, dass all dies die Vielfältigkeit des Lebens ausmacht.

Hier möchte ich aus aktuellem Anlass meine Freude darüber ausdrücken, dass bei den neuen Schulanmeldungen zu den 7. und 11. Klassen für Eltern, Schülerinnen und Schüler diese Argumente gewichtiger waren als kurzfristige Unwägbarkeiten nach dem Brand im Schulzentrum Sebastopol.

Schule ist nicht nur die Qualifikation für die Erwerbstätigkeit. So wichtig dies ist, muss die Schule Kindern und Jugendlichen darüber hinaus auf die eigenverantwortliche Gestaltung ihres Lebens vorbereiten, dessen Verlauf sehr viel weniger als früher durch Traditionen vorgezeichnet ist. Dabei ist der Alltag von Kindern und Jugendlichen nicht mehr mit dem zu vergleichen, den wir Erwachsene noch aus unserer Kindheit in Erinnerung haben.

Er ist vielfältiger und differenzierter geworden und raschen Veränderungen unterworfen. Unsere Töchter und Söhne werden in einer Zukunft leben und diese mitverantwortlich gestalten müssen, die von permanenten, alle Lebensbereiche betreffenden Veränderungsprozessen geprägt sein wird. Dabei zeichnen sich neue Chancen aber auch neue Risiken ab.
Kinder und Jugendliche müssen fähig werden, ihren Weg in einer individualisierten Gesellschaft zu finden und auch Brüche im eigenen Lebenslauf zu bewältigen.
Einen solchen Bruch haben auch die heute hier anwesenden Abiturientinnen und Abiturienten mit dem Brand im Schulzentrum erfahren.
Hier bedanke ich mich ausdrücklich bei den Lehrerinnen und Lehrern, der Schulleitung und auch den Damen im Sekretariat, den Mitarbeitern, den Verantwortlichen in der Stadtverwaltung und vielen weiteren Helfern, dass der Unterricht bereits am dritten Tag wieder stattfand. Besonders die Sorge um geeignete Räumlichkeiten und den reibungslosen Ablauf der Klausuren des Abiturjahrgangs stand im Vordergrund.

Und wird nicht immer betont:
Selbständiges und eigenverantwortliches Lernen muss gefördert werden, um auf ein lebenslanges Lernen vorzubereiten?
Hier haben alle zusammen in Organisation und Flexibilität bewiesen, dass unsere Abiturientinnen und Abiturienten auf gutem Wege sind …

Im Namen aller Eltern wünsche ich von ganzem Herzen den Schülerinnen und Schülern für die Zukunft alles Gute.

 

Für die Ehemaligen: Prof. Dr. Heinrich Weber
Prof. Dr. Heinrich Weber (Foto: EMA)

M s v D & H (sic)
Stellen Sie sich bitte einmal vor, wir hätten das Jahr 2051 und jemand von Ihnen, die heute das Abitur erreicht haben, würde an das Rednerpult treten und würde mit bis dahin entwickeltem Faltenwurf im Gesicht und vielleicht auch – wie ich – fast kahlhäuptig und mit entsprechendem Dickenwachstum ausgestattet, die dann aktuelle Abiturientengeneration beglückwünschen, wie ich das jetzt hier als Mitglied des sogenannten „Goldenen Abiturjahrgangs“ 1951 im Namen meiner alten Mitschüler zu tun die Ehre habe.
Vieles wird sich bis dahin verändert haben, und es ist beruhigend, dass man nicht weiß, was es im einzelnen sein wird: Vielleicht weithin gähnende Ozonlöcher, fortgeschrittener Klimawandel mit bedrohlichem Anstieg des Meeresspiegels, noch vollere 8-10-spurige Autobahnen oder weitgehende Erschöpfung der fossilen Energieressourcen ohne angemessene Ersatzquellen, oder einigermaßen sicher dann auch menschenähnliche Roboter, wie sie zur Zeit ja schon in Japan entwickelt werden, die bereits über Gemüt verfügen, freundlich Vokabeln abfragen, Schulaufgaben erleichtern, Trost spenden und vieles mehr..vielleicht aber auch sogar, wie in unserem Falle, der Name und der Standort dieser Schule…
Aber dennoch, nach allem, was man vernünftigerweise erwarten darf, ist der Wandel in den letzten 50 Jahren überhaupt nicht zu übertreffen. Manches war damals schon erfunden, aber es spielte in unserem Leben überhaupt keine Rolle. Niemand etwa hatte ein Auto, fast kaum jemand ein Telefon, selbstverständlich kannte niemand einen Fernseher, einen Kühlschrank oder gar solche Wunderdinge wie einen Computer; und hätte man behauptet, dass jemand in den nächsten Jahrzehnten einmal auf dem Mond spazieren gehen würde, den hätte man wohl kaum für Abitur-würdig gehalten.
Die alte Schule war damals an der Lotter Straße und war völlig anderes als heute, nicht nur äußerlich, weil wir teilweise noch immer auf Gartenstühlen an irgendwie zusammen gesuchten Tischen saßen (entsprechende Provisorien haben Sie ja allerdings im Zusammenhang mit dem Brand teilweise selbst erlebt). Typisch war der Name der Schule, nämlich: Staatliche Oberschule für Jungen, das heißt also, weibliche Mitschüler wirkten damals also noch nicht sittigend auf unsere durch die Kriegszeit geprägte Männergemeinschaft ein. Die meist erst seltenen Begegnungen mit gleichaltrigen Mitbürgerinnen waren überaus ungewohnt und ungemein aufregend. Für viele war es wirklich so etwas wie die „Begegnung mit der dritten Art.“
Andererseits waren wir einiges gewohnt. Im Kriege etwa waren wir – heraus aus der von Luftangriffen mit zahlreichen Zerstörungen heimgesuchten Stadt Osnabrück – nach Tschechien und in andere Gebiete, marschierten im Gleichschritt als sogenannte Pimpfe – dabei wenig poesievolle Lieder grölend – unter dem Befehl von Hitlerjugend-Führern durch die von GROSS-Deutschland besetzten Orte. Anschließend war die Klasse überall hin versprengt. Beispielsweise fuhr ich im Begleitschutz von zwei Pritschenwagen mit Vierlingsflak – also 4fachen Kanonenrohren zur Abwehr von Tieffliegern – unter dramatischen Umständen von Melle aus täglich zum Gymasium nach Bünde und habe auch die damaligen eher neolithischne Erziehungsmethoden noch deutlich in Erinnerung: Jeder, der in irgendeiner Arbeit eine „5“ geschrieben hatte, musste sich in der Pause beim Hausmeister melden, um sich fachgerecht verprügeln zu lassen. Es gab dort eine lange Schlange, und es wurde einem schon etwas mulmig, wenn man die Schreie aus dem Exekutionsraum gellen hörte. Aber das war damals ganz normaler Alltag, auch für einen Hausmeiste zumindest in Bünde, denn an der Lotter Straße fand praktisch kein Unterricht mehr statt.
Im Herbst 1945 fand sich dann unsere verstreute Klasse wieder an der Lotter Straße zusammen und erreichte im Februar 1951 das Abitur. Das war auch für uns eine spannende Angelegenheit, zumal man überhaupt nicht wusste, in welchen zwei Fächern man nun mündlich geprüft würde: War es etwa die Kombination Latein mit Physik, die ihren eigenen Charme hatte, oder Mathematik mit Chemie oder irgendeine andere Kombination? Man wusste wirklich überhaupt nichts und musste auf alles gefasst sein, wobei der Faktor Glück naturgemäß eine große Rolle spielte. Dazu kam, dass die damalige Staatl. Oberschule für Jungen wegen ihrer ungemein strengen Zensurengebung bekannt war. Unser Abitursjahrgang fiel sicherlich nicht durch besondere Schlicht-Hirnigkeit aus dem Rahmen. Aber dennoch gab es in allen Abiturszeugnissen zusammengenommen in der ganzen Klasse insgesamt nur drei Einsen.
Als wir das Abitur erreicht hatten, war die Zeit des Wirtschaftswunders angebrochen, in der einem Abiturienten, zu denen damals nur 5% eines Jahrgangs gehörten (also nur jeder 20ste!), die Welt offen stand. Das galt auch für die Studienplätze, die andererseits jedoch wegen extrem hoher Studiengebühren Probleme aufwarfen.
Damals war nämlich das Geld der alles begrenzende Faktor. Viele unserer Klassenkameraden fand man daher zunächst als Hausierer, Straßenbahnschaffner – es gab ja damals noch eine Straßenbahn in OS -, Fabrikarbeiter und in ähnlichen Positionen wieder, um erst einmal Studiengebühren zu beschaffen. Um es noch einmal am eigenen Beispiel zu erläutern: Ich begann mit dem Studium für Musik und Biologie für das Höhere Lehramt, und das bedeutete eine Studiengebühr an der Hamburger Musikhochschule von 400 DM pro Semester, das gleichzeitige Studium der Biologie an der Universität erforderte 250 DM pro Semester. Das waren – bei einem damaligen Verhältnis 1 : 10 – nach heutigem Wert etwa 6500 DM pro Semester, nur um überhaupt erst einmal einen Professor zu Gesicht zu bekommen. – . Entsprechend war der Verdienst in der Fabrik ebenfalls nach eigener Erfahrung damals 1.08 DM pro Stunde, also 10,80 DM heute. BaFÖG und andere Studienförderungen gab es damals nicht, und wohlhabende Eltern hatte praktisch auch niemand.
Das waren also einige der früheren Probleme. Heute gibt es viele andere, denen Sie sich als jetzige Abiturientinnen und Abiturienten gegenüber sehen, denn beispielsweise findet ja nicht jeder, wie zu unserer Zeit, gleich auf Anhieb den gewünschten Arbeitsplatz. Aber auch Sie alle werden es sicherlich am Ende ebenfalls schaffen, Ihre Ziele zu erreichen. Hierzu möchte ich Ihnen im Namen derjenigen, die vor einem halben Jahrhundert an Ihrer Stelle saßen, viel Durchhaltevermögen, Glück und Erfolg wünschen.

Für die Schule: Dr. Friedemann Neuhaus
Dr. Friedemann Neuhaus (Foto: EMA)

„Ein Lehrer ging in die Schule um zu lehren.Und im Unterricht erging es ihm so:
Einige Schüler waren in Gedanken noch bei einem Fußballspiel; sie achteten nicht auf das, was der Lehrer ihnen sagte, und sie lernten nichts.
Andere taten zwar eifrig mit, weil sie aber kein Interesse am Thema hatten, vergaßen sie schnell wieder, was sie gelernt hatten.
Und wieder andere waren bedrückt, weil ihre Eltern im Streit miteinander lebten. Und sie konnten nicht davon loskommen. Und obwohl sie sich anstrengten, lernten sie nichts.
Andere aber nahmen auf, was der Lehrer ihnen erschloss, und sie eigneten sich an, was wichtig war, und behielten es ihr Leben lang.“ (Franz W. Niehl)

Einige von Ihnen, liebe Schülerinnen und Schüler des Abiturjahrgangs 2001, haben es vielleicht erkannt: Es handelt sich hier um eine moderne Version des Gleichnisses vom Sämann, das Jesus erzählt hat, um zu verdeutlichen, wie das Wort Gottes mal auf den Weg fällt, wo es von Vögeln gefressen wird, mal auf felsigen Boden, wo es keine Wurzeln schlagen kann, mal unter die Sträucher, wo es von Dornen und Disteln erstickt wird, aber schließlich auch auf fruchtbaren Boden, um dort vielfache Frucht zu bringen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen werden vielleicht sagen: Das ist unser täglich Brot. Man müht sich ab, den Stoff möglichst lebendig, anschaulich und intensiv zu vermitteln, doch fast jede Klausur spricht dann ein anderes, häufig vernichtendes Urteil. Bei manchen Arbeiten fragt man sich, ob die betreffende Schülerin oder der Schüler überhaupt am Unterricht teilgenommen hat. Vielleicht können wir uns aber auch von dieser Geschichte trösten lassen: Wenn es in einer Klasse oder in einem Kurs nur zwei, drei oder sogar vier sind, die den Inhalt verstanden haben, dann ist das doch schon eine ganze Menge. So wird denn aus der vermeintlich resignativen Geschichte eine hoffnungsvolle:

 

Vielleicht haben ja einige von Ihnen, liebe Schülerinnen und Schüler, verstanden, worum es mir geht und was mir wichtig ist. Und vielleicht behalten Sie es ja auch Ihr Leben lang in Erinnerung, und nicht nur meine flapsigen Sprüche, die man jetzt in der Abizeitung nachlesen kann.

Da drängt sich allerdings die Frage auf: Was, von all dem, was wir in der Schule lernen und lehren, ist es eigentlich wert, dass man es sein ganzes Leben lang behält? Das meiste vergessen wir doch ganz schnell. Wenn Sie sich irgendwann in der nächsten Zeit noch einmal Ihre Abiturklausuren anschauen sollten, werden Sie sich wundern, was Sie noch vor wenigen Monaten gewusst und gekonnt haben. Was bleibt? Welches Wissen, welche Information ist es wert, dass man sie behält, ein Leben lang?
„Wir informieren uns zu Tode!“ verkündete der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Neil Postman bereits 1992 -in Anlehnung an sein berühmtes Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“. Postmans These: Wir werden mittels der neuen Medien und Informationstechnologie mit Informationen derart überfüttert, dass wir die Orientierung verlieren oder bereits verloren haben, weil wir nicht mehr unterscheiden können, was von all dem überhaupt von Wichtigkeit ist. „Die Information ist zu einer Art Abfall geworden. Sie trifft uns wahllos, richtet sich an niemand Bestimmten und hat sich von jeglicher Nützlichkeit gelöst; wir werden von Informationen nur so überschwemmt, sind nicht mehr im Stande, sie zu beherrschen, wissen nicht, was wir mit ihr tun sollen.“
Damals, als ich den Beitrag Postmans in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gelesen und ihn dann aufgehoben habe, weil ich ihn so gut fand, hatte ich eigentlich noch keine Ahnung, wovon Postman überhaupt gesprochen hat. 1992 gab es z.B. noch keine Mobiltelefone für Normalbürger, 1992 verfügte auch kaum jemand über einen Internetanschluss. Ich selbst hatte noch nicht einmal einen Computer. Wenn man aber heute mal ein Zeit lang im Internet surft, bekommt man eine Ahnung davon, was Informationsflut bedeutet. Vor lauter Angeboten vergessen wir oft, wonach wir eigentlich gesucht haben, und wir bekommen Antworten auf Fragen, die wir gar nicht gestellt haben.
Als weiteres Beispiel für die nicht mehr zu bewältigende Informationsflut mag Folgendes dienen. Auf der Suche nach dem „Zeit“-Artikel von Neil Postman in meinen Unterlagen bin ich auf eine Unmenge von Artikeln und Zeitschriften gestoßen, die ich mal aufgehoben habe – gelesen oder auch ungelesen: man weiß ja nie, wozu man sie mal gebrauchen kann. Ein Großteil dieser Sachen habe ich ins Altpapier verfügt: Ich hatte schlicht keine Ahnung davon, was ich alles gesammelt hatte, also hätte ich mich auch nie daran erinnert, wenn ich das ein oder andere vielleicht mal im Unterricht hätte einsetzen können. Ich habe die Informationen nicht beherrscht. Und so sind sie mir nutzlos geblieben. Abfall.
Was bringen uns also all die Informationen, die Versatzstücke unseres menschlichen Wissens? Immerhin, so könnte man einwenden, kann derjenige, der viel weiß, und das in möglichst vielen Sachgebieten, bei Günter Jauch Millionär werden. Wissen nutzbringend eingesetzt! Was aber bleibt uns vom vielfach gepriesenen Gut Bildung, wenn man es nur dazu einsetzen kann, um bei einem Fernsehquiz mehr oder weniger hohe Preise zu gewinnen? Was ist es wert, dass man es sein Leben lang behält? Der ehemalige Anglistikprofessor und derzeitige Bestsellerautor Dietrich Schwanitz hat dazu ein schönes Buch geschrieben. Es heißt „Bildung. Alles, was man wissen muss“. Das klingt vielversprechend, denn demnach scheint ja alles, was man wissen muss, zwischen zwei Buchdeckel zu passen. Schon der Einband verrät, was einen gebildeten Menschen ausmacht: Er muss viele, viele Bücher gelesen haben. Nun, Dietrich Schwanitz ist ein belesener Mensch und er versucht auch nicht, das zu verbergen. Er behandelt äußerst unterhaltsam alle Gebiete, von denen er meint, sie seien für einen gebildeten Menschen von Belang. Und da fällt schon beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis etwas Entscheidendes auf: Die Naturwissenschaften kommen fast nicht vor.

Die Vermutung liegt nahe, dass Schwanitz sich auf dem Gebiet der Naturwissenschaften weniger gut auskennt. Aber es liegen andere Gründe für diese Auslassung vor: Bildung, wie Schwanitz sie versteht, braucht man, um auf Partys und Stehempfängen im Smalltalk nicht als ungebildet entlarvt zu werden. Und nach seiner Ansicht kann man es sich durchaus leisten zu bekennen, dass man den zweiten thermodynamischen Hauptsatz nie verstanden habe. Aber es sei demgegenüber außerordentlich peinlich, wenn man van Gogh für einen niederländischen Fußballer halte.
So verstanden hat Bildung und haben ihre Inhalte keinen Wert an sich. Bildung wird instrumentalisiert als Kommunikationsmittel in der, wie Schwanitz sagt, Glaubensgemeinschaft der Gebildeten. Bildung dient zur Verständigung untereinander und zu sonst nichts. Aber nur um auf bildungsbürgerlichen Stehempfängen mitreden zu können, den ganzen Aufwand der schulischen Bildung und Erziehung auf sich zu nehmen…? Sollte man dann nicht doch lieber seine mangelnde Bildung Gewinn bringend vermarkten wie Zlatko und Verona Feldbusch?
Wozu geht man in die Schule, wenn ein Großteil dessen, was wir lernen, schon bald im Papierkorb unserer Gehirnwindungen landet, ohne jemals wieder abgerufen zu werden? Der Göttinger Pädagoge Johann Friedrich Herbart, der Nachfolger von Immanuel Kant auf dessen Lehrstuhl in Königsberg, bezeichnete zu Beginn des 19. Jahrhunderts die „ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“. Er ging dabei von der optimistischen Erwartung aus, dass die „Zöglinge“ – damit sind Sie als Schülerinnen und Schüler gemeint – erst aufgrund einer „solchen Darstellung der Welt – der ganzen bekannten Welt und aller bekannten Zeiten“ zur wahren Sittlichkeit geführt werden könnten. Das Wort Sittlichkeit klingt in Ihren Ohren etwas altmodisch. Für Herbart bedeutete Sitt-lichkeit, und darin war er ein gelehriger Schüler Kants, nicht etwa nur das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Sondern Sittlichkeit ist nach Herbert die freie, selbst-gewählte, bewusste und überzeugte Entscheidung für das Gute bzw. gegen das Böse: „Machen, dass der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies, oder Nichts, ist Charakterbildung!“ Das zu erreichen kann kein Lehrplan vorgeben, das hatte schon Herbart erkannt. Deshalb plädierte er dafür, in der Schule die bekannte gegenwärtige und vergangene Welt ästhetisch darzustellen. Damals, in der Zeit des Neuhumanismus, war man nämlich davon überzeugt, dass das Gute und Wahre auch schön sein müsse: „Dem Guten, Schönen, Wahren“ lautet daher der Wahlspruch der Hamburger Universität.
Wir mögen heute über Geschmack anders und weniger optimistisch urteilen als die Neuhumanisten. Im Ziel allerdings hat sich am Auftrag der Schule nichts geändert: Dazu beizutragen, dass Kinder und Jugendliche zu selbstbewussten und selbst bestimmten Menschen heranreifen, dass sie in die Lage versetzt werden, sich selbst ein Urteil zu bilden, dass sie lernen, die Folgen des eigenen Handelns abzuschätzen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Kurz: Menschen mit Rückgrat!
Ob die Schule, in Ihrem Fall das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium, dazu beigetragen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich weiß nur, dass Ihnen nie wieder in Ihrem Leben ein derart breites Spektrum dessen, was uns diese Welt zu bieten hat, geboten werden wird. In der Schule können Sie im Laufe eines Vormittags etwas über Shakespeare und Kernphysik, Verhaltensforschung und Gedichtinterpretation, über Gottesbeweise und den Aufschwung am Reck erfahren. Sie diskutieren über Gentechnik, über Europapolitik und die Relevanz der Naturwissenschaft für Fragen des Glaubens. Sie experimentieren mit verschiedensten Chemikalien, mit elektromagnetischen Wellen, mit Öl- und Wasserfarben und mit vertrauten oder weniger vertrauten Musikinstrumenten. Sie schreiben eigene Gedichte in verschiedenen Sprachen, sie lesen Werke von Tschechow, Orwell oder Camus. – Glücklich, wer diese Angebote sinnvoll für sich hat nutzen können. Bereits nach den wenigen Jahren Berufserfahrung, die ich habe, beschleicht mich das Gefühl, dass viele Schülerinnen und Schüler häufig gleichgültig, ja nachlässig mit dem Gut Bildung umgehen.

Aber ich will Ihre Schulzeit nicht mit dem erhobenen Zeigefinger beenden. Möglicherweise behält ja doch der ein oder andere von Ihnen einiges aus der Schulzeit bis an sein Lebensende. Vielleicht haben wir ja doch ein Stück zur Persönlichkeitsbildung, zur Entfaltung der Sittlichkeit, wie Herbart sagen würde, beigetragen.
Was möchte ich Ihnen noch mitgeben am Ende? Bleiben oder werden Sie neugierig auf die Welt. Geben Sie sich nicht immer mit dem Erstbesten zufrieden. Setzen Sie Ihren Ehrgeiz richtig ein – für sich und für Andere und nicht nur im Namen einer wie auch immer gestalteten Karriere. Und als Religionslehrer erlauben Sie mir noch das eine, was vielleicht die Quintessenz des christlichen Glaubens ist: „Mach’s wie Gott – werde Mensch!“
Vielen Dank.

 

Motto: „Wir lassen uns nicht verkohlen!“

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