Abiturjahrgang 2003

Marina Abramovskij; Alena Balgenorth; Maren Bei der Sandwisch, Verena Berkemeyer, Sergeus Bohn, Anna Buling; Kristina Demund; Inna Disterhoft; Anna Ditz, geb. Wagenleitner; Kristina Ehrmanntraut, Anna-Christina Gebauer; Stefan Gommer; Nadine Gonzaga Sousa; Anika Gronek; Florian Groß; Olga Grüner; Christin Gude; Ninja-Kathrin Helds; Helene Helfenstein; Alexander Hermann; Johanna Holtgräwe; Alexander Horst; Sascha Hussain; David Ilenseer; Birte Kallmeyer; Max Kessler; Eugen Kloster; Elisabeth Koop; Evgeniya Krantvays; Sebastian Kröger, Wallenhorst; Tanja Kuchtin; Helena Maier, Gennadi Mirmov; Dirk Moldenhauer; Marcel Müllen; Valeria Nadel; Stefan Nier; Arsenti Pavlov; Anna Riemer, David Lee Riley, Eugen Rusch; Andreas Schröder; Gesche Schwichtenberg; Maria Skorochod; Jasmina Stojnić; Christian Stüber; Yevgenij Tatartschuk; Marina Walter; Dennis Welsch; Eleonora Werbis

Die Reden:

> Begrüßung: OStD Hartmut Bruns
> für die Eltern: Jürgen Moldenhauer
> für die Schule: Helmut Brammer-Willenbrock
> für den Jahrgang: Alexander Horst und Ninja-Kathrin Helds (liegt nicht vor)

Begrüßung: OStD Hartmut Bruns

Liebe Eltern,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Angehörige und Freunde unserer Abiturientinnen und Abiturienten
und besonders,
liebe Abiturientinnen und Abiturienten

Ich begrüße Sie recht herzlich zur Entlassungsfeier unserer Abiturientia 2003 – erstmals in unserem neu gestalteten Forum.

In den letzten Jahren habe ich meine Begrüßung immer damit begonnen, an dieser Stelle einige Worte an unsere Jubiläumsabiturienten zu richten. Leider haben sich in diesem Jahr keine Ehemaligen gemeldet, die vor 50, 40 oder 25 Jahren ihr Abitur an unserem Gymnasium abgelegt haben, und ohne deren Mithilfe war es uns leider nicht möglich, die derzeitigen Adressen der Jubiläumsabiturienten herauszufinden. Ich bedauere das sehr, aber es ist leider nicht zu ändern.

Liebe Eltern,

mit Ihnen hat uns Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule – und natürlich auch mit mir – ein langer Weg verbunden.

Mindestens 3, meist 7, manchmal sogar 8 Jahre haben Sie mit Sorge, manchmal mit Ängsten auf die Entwicklung Ihrer Kinder geschaut. Sie haben versucht, diese Entwicklung zu beeinflussen. In diesem Prozess war die Schule für Sie manchmal ein Störfaktor, manchmal eine Hilfe. Meistens hatten wir identische Ziele, zuweilen kam es zu Differenzen. Viele von Ihnen haben aber Ihren Kindern geholfen, Schule als sinnvolle, für die Zukunft zentrale Lebensphase zu erleben und haben die Lehrer unseres Gymnasiums ermutigt, sich als Partner im gemeinsamen Erziehungsprozess wahrzunehmen.

Liebe Eltern – ich weiß nicht, ob Ihre Kinder sich schon bei Ihnen bedankt haben – Dank zu sagen ist nicht mehr „in“ – ich aber danke Ihnen von ganzem Herzen für die fürsorgliche Begleitung, für die Geduld und für die Liebe, die Sie Ihren Kindern auf dem Weg zum Abitur haben zuteil werden lassen.

Meinen Kolleginnen und Kollegen gilt auch in diesem Jahr mein ganz besonderer Dank. Sie haben nicht nur in den letzten Monaten, sondern über viele Jahre viel Energie, Wissen und Kompetenz eingesetzt, damit die Schülerinnen und Schüler, die wir heute verabschieden, und die nach dem Schulbrand zwei harte Jahre hinter sich haben, ihr Abitur erreichen konnten.

Besonders möchte ich an dieser Stelle Herrn StD Jonas danken, der unseren Abiturienten als Jahrgangskoordinator mit hoher Kompetenz und viel Empathie zur Stelle gestanden hat.

Mein Dank geht heute aber auch an diejenigen, die im Hintergrund stehend die Voraussetzungen für das Gelingen unserer Arbeit schaffen.

Mein Dank gilt den Sekretärinnen Frau Kowalinski und Frau Mock, den Hausmeistern Herrn Lüddecke, Herrn Kerrinnes und Herrn Arnold und dem Schulassistenten Herrn Tiemann.

Und nun zu Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten:

Wenn Sie heute die Zeugnisse der Allgemeinen Hochschulreife im Rahmen dieser Feierstunde überreicht bekommen, so ist das für Sie zu Recht ein Anlass zur Freude und des Stolzes über das Erreichte. So unterschiedlich Ihre Gedanken und Gefühle sein werden, ein Grundgefühl ist allen gemeinsam. Mit einem Gefühl von der Befreiung, aber auch der bestätigten Leistungen verlassen Sie heute das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium, die Schule des neuen Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen. – Man sieht also, was aus Schülern unserer Schule werden kann. –

Das EMA hat Ihnen die Tür zur Welt geöffnet. Sie verlassen die Schule und planen nun Ihre ganz persönliche Zukunft.

Das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium – inzwischen Europaschule – hat Sie stärker für Ihr Leben geprägt, als Sie es im Augenblick glauben mögen; es gehört deshalb – ob Sie es wollen oder nicht – zu Ihrer Identität. Was Sie aus dem machen, was Ihnen als Bildung, d.h. Entfaltung des Geistes und Schulung des Verstandes, mitgegeben wurde, liegt nun in Ihren Händen. Das nächste Stück Ihres Lebensweges legen Sie weitgehend selbstverantwortet allein zurück. Wir Lehrerinnen und Lehrer am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium waren nur eine Zeit lang Ihre Begleiter auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

„Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, uns bleibt nichts, als mutig gefasst, die Zügel und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“

Diese Zeilen des jungen Goethe aus dem Egmont, obwohl mehr als 200 Jahre alt, drücken ein Lebensgefühl aus, das man mit dem unseren vergleichen kann. Sie sind es liebe, Abiturientinnen und Abiturienten, die den Wagen lenken, den Blick nach vorn gerichtet. „Wohin es geht, wer weiß es?“ – Wissen Sie es? Sicherlich haben Sie Träume, Visionen und Hoffnungen, und das ist gut so, denn wer keine Visionen hat, der sieht auch keine Notwendigkeit sich zu engagieren, sich anzustrengen. Unsere Gesellschaft benötigt aber mehr denn je das Engagement der jüngeren Generation.

Liebe Abiturientia 2003, ich bitte Sie herzlich, nein, ich fordere Sie eindringlich auf:

Tragen Sie in Zukunft ein hohes Maß an Verantwortung für Staat und Gesellschaft und insbesondere für Ihre Mitmenschen, d.h., machen Sie das Optimale aus Ihren ganz persönlichen Fähigkeiten.

Für Ihre persönliche Zukunft wünsche ich Ihnen von Herzen Gesundheit – ohne die nichts geht – und vor allem natürlich Erfolg und Zufriedenheit im Studium und im Beruf.

„Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“ – Mögen Sie sich daran erinnern, woher Sie kommen und möge der Kontakt zu Ihrer alten Schule nicht abreißen.

 

Für die Eltern: Jürgen Moldenhauer

Guten Tag!

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

was soll – was kann ich ihnen, heute noch Bedeutendes sagen und mit auf den Weg geben, kurz bevor sie aufbrechen um die „Welt“ zu erobern?
Was ist noch nicht in den zurückliegenden Jahren innerhalb oder außerhalb des Schulunterrichtes, von den Lehrern, uns Eltern, dem Freund, der Freundin, den Mitschülern oder von Ihnen, gesagt, gehört, diskutiert, gelesen bzw. erarbeitet worden? Was bleibt, ist Ihnen „Herzlichen Glückwunsch“ zu sagen. Wir Eltern sind stolz auf euch!
Sie haben das Abitur, ihr langjährig angesteuertes Etappenziel erreicht. Unser Dank gilt Ihnen sowie allen Damen und Herren des Lehrerkollegiums, die durch ihr Engagement zu diesem Erfolg beigetragen haben.
Halten Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, den heutigen Tag fest, lassen Sie ihn wirken und genießen Sie ihn. Dieser Tag gibt Zeit anzuhalten, zurückzublicken, sich zu besinnen.
„Morgen“ erwartet sie der Zivildienst, die Bundeswehr, ein Beruf, das Studium oder ein Auslandsaufenthalt. Nutzen Sie da ihre Grundlagen, setzen sie ihre bislang erworbenen Erkenntnisse und Erfahrungen ein.

Die Zeit des Lernens ist aber noch nicht vorbei. Sie müssen lernen, sich breiter aufzustellen, sie müssen lernen flexibler zu sein, um mit- oder eigenverantwortlich gestalten zu können. Lernen ist wie Segeln gegen den Wind; sobald man aufhört, treibt man zurück.
Ihren zukunftsfähigen Weg für die kommenden Jahre werden sie nur durch effizientes zielführendes Handeln einhalten können. Die unbeschwerte Leichtigkeit des Seins findet nur noch in Nischen Platz. Vergessen sie aber auch nicht, sich diese Nischen zu erhalten.
Bundespräsident Johannes Rau forderte in einem Gespräch mit Nachwuchskräften der deutschen Wirtschaft: „Deutschland braucht mehr Eliten“. Er meint, Eliten als Vorbild im Wissen, Gemeinsinn und der Praxis. Weiter sagte er: „Wichtig ist, dass Menschen mit beruflichem Erfolg bereit sind, einen Teil ihres eigenen Mehrwertes in die Gesellschaft zu investieren“. Wir meinen, Sie haben das Zeug dazu. Gehen sie auf Kurs. Leinen los und volle Fahrt voraus. Wir wünschen Ihnen – Mast- und Schotbruch.

 

Für die Schule: Helmut Brammer-Willenbrock

Liebe Anwesende! (Da kann ich keinen übergehen; und wer in Urlaub ist von den Abiturienten, der kann sich ja angesprochen fühlen)

1. Vor drei Wochen, genauer Pfingstmontag bin ich gefragt worden, ob ich diese Rede halten wolle – ein paar Wochen früher wäre mir durchaus auch recht gewesen; ich hätte ohnehin kaum abgelehnt.
2. Neulich habe ich das Lied „Turn! Turn! Turn!” wiedergefunden, gespielt von The Byrds, mein all time favourite (Allzeit-Favorit, würde man heute in Radiosendungen sagen; also mein Lieblingslied) – viele werden das Lied aus dem Soundtrack von „Forrest Gump“ kennen, als Tom Hanks ganz zum Schluss auf der Bank sitzt und die Feder langsam vorbeifliegt. Darin heißt es:

A time to plant, a time to reap …
A time to love, a time to hate …
A time for peace, I swear it’s not too late.
Übersetzung: Pflanzen hat seine Zeit, Ernten hat seine Zeit,… Lieben hat seine Zeit, Hassen hat seine Zeit, Frieden hat seine Zeit – ich schwöre, es ist nicht zu spät.

Es fällt auf, dass „time“ oft vorkommt in diesem Lied, „Word“ hat mir „time“ ausgezählt – 31 Mal kommt es vor bei 206 Wörtern insgesamt. Das ist signifikant.

Ich habe daraufhin mal verschiedene Suchmaschinen befragt – nur nach der Häufigkeit verschiedener erfasster Begriffe, dabei habe ich als Sprache das Englische als Sprache des www eingestellt:

TIME
Google findet den Begriff money 64 Mio mal, GOD 44 Mio, SEX 190 Mio mal. Das ist aber nicht der Spitzenreiter, das ist TIME mit 263 Millionen Einträgen.
(Yahoo.com liefert fast die gleichen Ergebnisse (TIME 266 Mio; GOD 44 Mio; MONEY 64 Mio).)

Macht man die Probe aufs Exempel mit nur deutschsprachigen Seiten und den entsprechenden deutschen Vokabeln, so kommt man – wiederum bei Google – auf ähnliche Relationen.

Wie kommt das? Was ist uns Zeit? Was machen wir mit Zeit?

Dave Allen – jener irische Komiker, der in den späten 70er Jahren als Kulisse für seine Auftritte im britischen Fernsehen bloß einen Sessel und ein Glas Whiskey benötigte, hat einmal sinniert: Wir haben immer mehr Zeit, was machen wir damit? Wir fahren mit dem Auto, fliegen, haben Anrufbeantworter usw. – damals fand man die Pointe urkomisch, „dass sich Ihr Anrufbeantworter mit dem Ihres Partners unterhält, während Sie mit dem Besitzer des anderen Gerätes gerade eine Partie Golf spielen“…

Das klingt ja fast niedlich. Wir haben heute den Computer, der uns lästige Routinearbeit wie stumpfsinniges Abschreiben (OCR) oder Rechnen (Excel) abnimmt, Bilder und Filme zeigen, mit E-Mails die Möglichkeit, in Null-Zeit Briefe zu verschicken, also jemanden so schnell wie das Telefon schriftlich informiert, wenn ich will, ein paar Hundert Empfänger gleichzeitig mit ein paar Mausklicks. Wir haben das Internet, das uns die Welt ins Haus bringt, auch fertige Referate und Hausarbeiten – da kommt es manchen dann eher darauf an, beim Mogeln nicht erwischt zu werden. Und wir haben das Mobiltelefon, mit dem wir dem Banknachbarn oder der Freundin eine SMS schicken, auch wenn wir das alles gleich in der Pause bereden könnten, aber das hatten wir ja gerade (Golfspiel). ….. Aber: wir verdaddeln auch unendlich viel Zeit vor dem PC, schönes layout, diesen link noch im Netz ansurfen, da nochmal hinschauen, das Spiel noch eben zu Ende bringen usw. – die Möglichkeiten sind ja schier endlos, man versinkt im cyberspace, man vergisst die Zeit!

Redet man mit alten Leuten, die noch 7 km zu Fuß jeden Sonntag in die Kirche gegangen sind, oder blickt man in die Geschichte des Alltags hinab, so wird schnell klar: Wir haben unglaublich viel, vielleicht – betrachtet man die breite Masse der Bevölkerung – die meiste disponible Zeit in der Geschichte, nehmen wir die Menschen aus, die zwangsweise ohne Arbeit sind und also mehr Zeit haben als ihnen lieb sein kann.

Doch was machen wir mit der vielen Zeit? Wir merken nicht einmal, dass wir viel Zeit zu unserer Verfügung haben. Wir haben jedenfalls das Gefühl, keine Zeit zu haben. Terminkalender schon für Kinder; hast Du Zeit? Dies als Frage von Kindern und Jugendlichen, die ihre Hausaufgaben schon fertig haben! „Keine Zeit!“ Kinder haben keine Zeit! Man muss sich das nur einmal vorstellen.

Was ist Zeit? Es scheint mit Hektik, Eile, Tempo – aus dem Italienischen, wo es Zeit bedeutet; aber die Italiener gelten ja bei uns als Hektiker – eben zu tun zu haben; „wenn ich nur Zeit dafür hätte!“ – Zeit ist uns also fast gleichbedeutend mit „keine Zeit“, eine neue Art von Zeitparadoxon, so will es mir scheinen.

Das geht ja so aber nicht. Aristoteles (der darf nicht fehlen) hat Zeit definiert: „Zeit ist das Zählbare an der im Horizont des Früher oder Später begegnenden Bewegung“ (Physik IV, 10-14)

„Früher oder Später“ – das ist klar. Warum aber orientiert er sich an der begegnenden Bewegung, „Zeit ist das Zählbare an der im Horizont des Früher oder Später begegnenden Bewegung“ – das ist nicht meine Bewegung, sondern die von etwas anderem? Weil man objektive, also messbare Zeit unterscheiden muss von der subjektiven, also empfundenen, „gefühlten“ Zeit und Zeitdauer.

Subjektive Zeit oder „gefühlte“ Zeit – wer kennt nicht diese Situation:
Man schaut um 5 vor 1 auf die Uhr, da ist es 5 vor eins, 12.55h. Und 20 Minuten später – ist es erst eins / 13h. Diese 5 Minuten sind eine ganz schön lange Weile. Anderen kommt es nicht so vor. Aber jeder wird das in einer 6. Stunde schon einmal erlebt haben. Auf einer solchen Grundlage „gefühlter Zeit“ treffe man mal Verabredungen. Da ist schon die Verabredung präziser, die aus der Antike überliefert ist: „Wir treffen uns um die Mittagszeit, wenn Dein Schatten einen Fuß lang geworden ist.“ Das ist etwas genauer; es orientiert sich am Sonnenstand und nicht am Gefühl.

Man kann also Zeit messen, und zwar immer an der Bewegung von etwas anderem. Man kann sie messen am Tagesablauf, an den Jahreszeiten, am Umlauf der Erde um die Sonne, an Festtagszyklen (der jüdische, muslimische, christliche Festtagskalender orientiert sich meist am Mond); an den Phasen des Lebens – Geburt-Kindheit-Jugend-Erwachsensein-Alter-Tod; auch Kindergarten-Schule-Studium-Beruf usw.). Oder wir messen den Durchlauf des Sandes oder des Wassers, die Bewegungen, die durch ein Pendel in Verbindung mit einer Unruhe ausgelöst wird, die Schwingungen eines Quarzes oder vieles anderes. Wir tun das nur, weil wir sonst heilloses Durcheinander hätten.

Das ist die objektive Zeit, die gleichmäßig vorüberzieht, ohne dass wir sie aufhalten könnten.

So viel dazu.

Die griechische Sprache kennt ein hoch aufschlussreiches Begriffspaar in diesem Kontext – manche kennen das aus dem Religionsunterricht:
Zunächst ist da chrónos – die Zeit – eine Gottheit! In der griechischen Mythologie ist daraus Krónos geworden, der seine Kinder frisst – so wie uns die Zeit ja auch verschlingt. Er steht für die Lebenszeit, und die verrinnt – Petronius lässt in seinem „Gastmahl des Trimalchio“ bittere Tränen vergießen: „O weh, nun bin ich schon wieder eine Stunde näher an meinem Tode!“ Ja, verdammt, er hat recht. Kronos ist aber auch Ursprung des Lebens und des Lichts sowie der Liebe.

Die Zeit vergeht, die Zeit fließt dahin wie ein Strom …

Kann man die Zeit anhalten? Als mein Opa (Onkel Gussav hieß er im Dorf) gestorben war, wurden im ganzen Haus die Uhren angehalten, das Kalenderblatt wurde ab jenem Juli-Tag des Jahres 1956 nicht mehr abgerissen – seine Zeit war abgelaufen. Und der andere Opa – 1979 mit 92 Jahren gestorben – hat sich über Öl- und Stromheizungen geärgert: Man müsse Holz heizen. Eine Birke habe er 4-5 Mal wachsen sehen, bis man sie schlagen konnte. Das Öl aber, da seien schon die Saurier drüber gelaufen. Das komme nie wieder. Man solle also gut überlegen, was man da anrichte. Das richte die Zeit zwar auch, aber erst in Hunderten von Jahrmillionen – weit außerhalb unseres Vorstellungsvermögens.

Das ist auch Zeit, die verrinnt, die unwiederbringlich ist.

Vielleicht ist für unser Leben der andere Begriff wesentlicher, er beschreibt einen wesentlich kürzeren Zeitraum: kairós, das ist der richtige Augenblick. Den habe ich in der Hand, kann ihn mit bestimmen. Es ist ein bisschen wie bei ebay, wenn man auf den Moment wartet zuzuschlagen bei der Auktion –kommt der andere Bieter mir zuvor oder ich ihm? Der Augenblick ist verpasst, wenn ich Pech habe.
kairós – wenn ich das Lied höre von Frank & Nancy Sinatra, das Robbie Williams wieder aufgenommen hat:
„… and then I go and spoil it all by saying something stupid like „I Love You“ / „dann verderbe ich alles, indem ich sage: „Ich liebe Dich“–
denke ich auch an den kairos, das I Love You geht auch nur in bestimmten Situationen, zu früh ist blöd und zu spät ist auch nicht gut. Da hilft dann auch kein Blumenstrauß ein paar Tage später und das coolste outfit auch nicht. Und manchmal hat man große Lust eine Sache zu machen, sei es in der Schule, sei es zu Hause, und in einer veränderten Situation zu anderer Zeit wird es zur Anstrengung und nervt nur noch. Und ob der günstigste Moment für eine Feier zum Einzug 6-7 Wochen nach dem Einzug ist, steht dahin. Der richtige Moment– kairós –ist das nicht mehr.
kairós also bezeichnet – anders als die verrinnende Zeit, der wir nur zusehen können – eine Situation, auf die wir Einfluss nehmen können. Das Wort ist übrigens verwandt mit „kri_nein“, trennen, auch entscheiden, und krisis – „Krise“ bedeutet Trennung, Entscheidung. (Als sich die Heere der Griechen und der Trojaner gegenüberstehen, als aber noch verhandelt wird über die Herausgabe der entführten Helena an ihren Ehemann Menelaos, atemlose Stille, da greift Athene ein und lässt den Pandaros einen Pfeil abschießen auf Menelaos. Zwar trifft er daneben, aber das Getümmel und der Lärm der Schlacht beginnt, Ende der krisis; dieser Pfeil zerschneidet die Zeit, macht aus Frieden Krieg – a time of war, a time of peace…) (Und Bush und Blair hatten ihren Beschluss zum Kriege lange vor dem 20. März gefasst; allein, der Moment, in dem sie Frieden in Krieg umschlagen ließen, lag an jenem 20. März, Ende der krisis; a time of peace, a time of war.)

Was machen wir eigentlich mit der Zeit?
„Ihr seid Tagediebe,“ haben unsere Lehrer noch gerufen. „Wir sind nicht zum Zeitvertreib hier“. Aha! Man kann also Zeit vertreiben, man kann einem die Zeit stehlen! Ja, man kann die Zeit sogar totschlagen! Gerade so als wäre sie ein tollwütiger Hund.

Man kann auch Zeit ausfüllen (wie ein Formular?) / Zeit geben; sich Zeit nehmen, Zeit gewähren/schenken; „thank You for Your time“, verabschieden sich britische Journalisten von ihren Interviewpartnern. Das gibt’s auch, durchaus positiv.

Nun kann man auch Zeit vergeuden, die eigene Zeit, wenn man die halbe Nacht vor dem PC daddelt oder beim „Chatten“ – davon wird man nicht klüger, eher etwas ordinärer in der Sprache und auch nachlässiger.

Ärgerlich bis schlimm wird’s, wenn andere davon Nachteile haben; ein Beispiel:
Klassen- oder Studienfahrt; Verabredung, um 15.00h sollen sich alle treffen. Nur einer kommt zu spät, lässt die anderen warten – 25 Leute, nein, nehmen wir 24, das rechnet sich besser, warten je 10 Minuten – das sind 24×10 = 240 Minuten = 4 Zeitstunden vertane, gestohlene Lebenszeit. Bei einer halben Stunde Verspätung komme ich schnell auf einen ganzen helllichten Tag von 12 Stunden! (Was die Warterei auf Bahnhöfen, an Supermarktkassen und in den vielen Staus an Lebenszeit kostet, mag ich nicht ausrechnen – Jahrhunderte wahrscheinlich, könnte man die Stunden wie mit dem Zollstock aneinanderlegen.)

Also, wenn ich allein bin, kann ich meine Zeit durchaus totschlagen, am PC, auf einer LAN-Party, einer Dauerfete, im Stau auf der Autobahn oder sonstwo. (Ich merke das dann am erheblichen Schlafbedürfnis oder an schlechteren Noten in der Schule oder an zunehmender Gereiztheit.) Wenn ich in einer Gruppe bin, habe ich dazu das Recht nicht, sobald die Gruppe berührt ist. Ich verfüge damit nämlich über anderer Leute Lebenszeit, stehle sie ihnen vielleicht sogar. Umso mehr gilt das übrigens für Leute in verantwortlicher Position. Denn da verfügt man in aller Regel über die Zeit anderer Leute. (Das Abitur schafft jedenfalls eine wesentliche Voraussetzung für das Aufrücken in solche Positionen.)

Verfügung über die Zeit ist immer auch Verfügung über Lebenszeit, über Leben also. Denn Leben ist bekanntlich in der Zeit, Lebenszeit. Warten auf Behörden und bei Ärzten, im Vorzimmer. Wichtigeres liegt an – nicht für den Wartenden, der ist dann nicht so wichtig, schließlich will der was; im schlimmeren Fall heißt es: „Der kann warten!“

„5 Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit“, in Zeiten, in denen das Militär im Zentrum der Gesellschaft stand, wusste das der Volksmund – und der Offizier? Der kann zu spät kommen, er hat immer eine Entschuldigung, meistens wichtige Dienstgeschäfte, heutzutage sind das Telefonate – offenbar ist seine Zeit wichtiger als die des Gemeinen.

Wenn wichtige Informationen nicht weitergereicht werden, obwohl der Termin bekannt ist und unausweichlich, dann hat das Mehrarbeit zur Folge, und zwar je mehr, je weiter nach unten – von oben wird ja delegiert. Und „oben“ steht hinterher in der Zeitung und sonnt sich. Und hat immer triftige Gründe.

Zeitmanagement ist aber nicht nur etwas für oben. Pardon, aber nun kommt meine Standardbemerkung zum Zu-Spät-Kommen, damit es auch alle einmal in ihrem Leben hören: „viertel vor 5 Melken, also halb 5 aufstehen (auch an Wochenenden; das nervt mich manchmal, wenn Leute nach einer Nacht mit wenig Schlaf öffentlich und laut leiden – man hat das doch vorher gewusst! Lasst mich damit bloß in Ruhe!), weiter, um 6.15 die Kühe gemolken und gefüttert und ausgemistet, …“ – und jeden Morgen um 8 in der Schule, 25 km entfernt, bei Regen und Schnee. Man kann alles einrichten. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass man um 8 nicht auf der Matte steht, und erst recht nicht für 9 Uhr oder gar zur 3. Stunde. Und wenn alles so knapp ist, und wenn ich weiß, dass da irgendwo öfters mal ein Stau ist, dann muss ich halt früher los.
Übrigens – wenn ich mir eine halbe Stunde länger gegönnt hätte in der Kiste, ich bin ja so fertig, dann hätten wir die Milch wegschütten müssen – wahlweise hätte ich den Vormittag ca. 250l Milch trinken müssen – mögliche Folge schlechten Zeitmanagements. Und wären sie nicht gemolken worden, so hätten sich die Kühe eine Euterentzündung geholt. In der Schule hole ich mir keine Euterentzündung, wenn Schüler zu spät kommen. Da hat Verspätung keine so schlimmen Folgen, es gibt immer Entschuldigungen. Und zwar für oben und für unten. Man merkt das nur meistens erst viel später.

Das alles hängt auch mit Organisiertheit und Verantwortung zusammen. Oder was ist sonst der Hintergrund von vielem Stress: Abi-Entlassungs-Stress?? Abi-Feten-Stress? Abi-Ball-Stress – Abi 2003 steht ja nicht erst seit letzter Woche an.

Und was ist mit dem, was man Weihnachts-Stress nennt? Diese Art von Stress ist ein zwar außergewöhnlich lächerliches, aber für unsere Zeit sehr typisches Syndrom – man muss noch schnell die Einkäufe machen, und das am 23. 12. Wie bitte? Ist nicht bekannt, dass seit der Antike am 25.12. gefeiert wird, am Tage des SOL INVICTUS und des Mithras, später Weihnachten? Das wussten schon die Menschen in der Antike. Spontanëismus und mangelhafte Planung kosten am Ende Zeit und meistens auch Nerven – anderer, die es doch noch irgendwie in Ordnung bringen wollen. Vielleicht will man da ja auch nicht recht ran, aber es ist ja nicht zu vermeiden – Planung oder Verdrängung! – ist alles. Oder es ist mir eigentlich ja nicht wichtiG.

Was also tun? Haushalten mit der Zeit, Inseln der Muße schaffen in der Hektik – scol_h, der Ursprung unseres Wortes Schule, bedeutet Muße, Ruhe, Zeit für Betrachtung, sich zu bilden, zu lernen, sich Gedanken zu machen, sich an schöne Sachen zu erinnern, an einen Abend in Rom auf der Piazza Navona, sich in Ruhe zu unterhalten, ohne die lauten und aufdringlichen Gerätschaften, die man auch mal ausstellen kann, sich nicht treiben lassen und sich nicht anstecken lassen von all dem Zeugs, das es zu kaufen gibt, von der Unruhe.
Also statt der der fressenden Zeit, von event zu event, von Fete zu Fete, es muss doch irgendwo noch geiler abgehen, uns hetzen zu lassen – den kairós, den Augenblick entgegensetzen, ihn genießen. Jetzt! Genieße den Tag – solange er da ist. Morgen ist er schon weg und Du hast nur noch eine Erinnerung.

 

  • Nachtrag: Das Wort „Zeit“ habe ich in dieser Rede 85 Mal benutzt, das Wort „ich“ 69 Mal, das kann man sicherlich interpretieren … Schluss jetzt! Ich will über niemandes Zeit mehr verfügen.

CARPE DIEM – für jeden von Euch: genieße den Tag, genieße diesen Tag, genieße jeden Tag!

 

Anhang:

Turn! Turn! Turn!
(Text: Pete Seeger, nach: Prediger Salomon, Kap.3,1-8)

To every thing, turn, turn, turn,
There is a season, turn, turn, turn,
And a time to every purpose under heaven

A time to be born, a time to die
A time to plant, a time to reap
A time to kill, a time to heal
A time to laugh, a time to weep

To everything, turn, turn, turn,
There is a season, turn, turn, turn,
And a time to every purpose under heaven

A time to build up, a time to break down
A time to dance, a time to mourn
A time to cast away stones
A time to gather stones together

To everything, turn, turn, turn,
There is a season, turn, turn, turn,
And a time to every purpose under heaven

A time of love, a time of hate
A time of war, a time of peace
A time you may embrace
A time to refrain from embracing

To everything, turn, turn, turn,
There is a season, turn, turn, turn,
And a time to every purpose under heaven

A time to gain, a time to lose
A time to rend, a time to sew
A time to love, a time to hate
A time for peace, I swear it’s not too late.

Alles hat seine Zeit
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Prediger Salomon, Kap.3,1-8)

 

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