1. Abiturjahrgang 1988

Abiturjahrgang 1988

Adler, Magdalena; Bartl, Jörg; Beylage, Birgit; Blomeier, Sandra; Blomenkamp, Marcus; Bockbreder, Frank; Bornstedt, Ralf; Brauner, Karen; Butke, Sandra; Düyffcke, Sven; Eckhardt, Jörg; Erdenbrink, Michael; Fieselmann, Kerstin; Freericks, Stefanie; Fried, Stephan; Frost, Marie-Louise; Geldmacher, Kerstin; Gengel, Olaf; Goretzki, Sonja; Grabis, Dirk; Hackmann, Ines; Harms, Stefan; Hartung, Iris; Hegels, Barbara; Helfer, Stefanie; Hemesath, Alexander; Hochtritt, Jan; Hofer, Carsten; Hüsemann, Thomas; Jabs, Burkhard; Jarecki, Sandra; Jenke, Eva; Kaschtan, Anja; Keweloh, Susanne; Koblitz, Dietmar; Koch, Andreas; Koepsell, Olaf; König, Birgit; Könnecke, Nicole; Krallmann, Stefanie; Krohn, Stephanie; Kropp, Sylke; Langer, Silke; Lechler, Andrea; Lohmann, Martina; Lugan, Jan; Lütkemaß, Jens; Magnussen, Björn; Meier, Claudia; Nedderhoff, Frank; Nestler, Helge; Nienhüser, Martin; Pannenborg, Hagen; Plate, Birgit; Rehkate, Christian; Reinke, Oliver; Richter, Frank; Rössner, Tanja; Ruschhaupt, Gerd; Saremba, Dagmar; Schmalz, Katrin; Schrader, Alexandra; Schröder, Heike; Schröer, Monika; Schultz, Dirk; Schulze, Anita; Senekowitsch, Nikolai; Starke, Jens Alexander; Stavermann, Heino; Stein, Anna; Steinmetz, Oliver; Subel, Carsten; Terhorst, Frank; Tiegel, Bodo; Varandas, Maria; Vieth, Manuela; Wallenhorst, Rainer; Wallmann, Silke; Weber, Iris; Wellmann, Birgit; Wiechmann, Maren; Wiemeyer, Kerstin; Wienkamp, Volker; Wippermann, Dirk; Wolter, Anja

“Abischied 88”, Zeitung des Abi-Jahrgangs 1988 – die erste mit Computer gesetzte

Abiturjahrgang 1988, aufgenommen im Sommer 1987 (Foto: EMA)

 

Für den Abiturjahrgang 1988: Iris Weber und Hagen Pannenborg

Für die Schle: Helmut Brammer

Für den Abiturjahrgang 1988: Iris Weber und Hagen Pannenborg

Guten Morgen!

Stellvertretend für den Abijahrgang 88 begrüßen wir Sie – im besonderen natürlich unsere Eltern: Endlich habt Ihr uns soweit! und unsere – ehemaligen – Lehrerinnen und Lehrer: Nun sind Sie uns los!
Sie können ganz beruhigt sein:

In dieser Abiturientenrede wird es keine pauschale Verteufelung der Schule als Institution geben.
Wir werden Sie aber auch nicht mit dem üblichen Gerede über „Lebensabschnitt“ und „Reife“ langweilen, um damit nur ein allseits zufriedenes Schulterklopfen hervorzurufen.
Denn beides ist uns zu allgemein, zu unpersönlich und vor allem viel zu einfach.

Was wir wollen, ist, den schulischen Alltag zu beleuchten, wie wir ihn – besonders in den letzten zwei Jahren auf dem Weg zum Abi – erlebt haben. Mit dem Eintritt in die Kursstufe gerieten wir in ein kaum überschaubares System von Bestimmungen und Verordnungen in Form von Paragraphen. Diese Bürokratie zeigte sich in ganzen Bergen von Formularen – Vorwahlbögen, Wahlbögen, Umwahlbögen, Meldungsbögen, Überprüfungsbögen -, die zu unser aller Unglück immer wieder ordnungsgemäß ausgefüllt werden mußten. Die sogenannten „Informationsstunden“ verstärkten nur noch das herrschende Chaos, und unsere Tutoren, die uns eigentlich sicher durch diesen Verwaltungsdschungel fuhren sollten, wurden dabei ebenso von Ratlosigkeit ergriffen wie wir. Organisatorische Fehlschläge wie nicht eingehaltene Abgabefristen und verspätet bekanntgegebene Prüfungstermine machten alles nur noch verwirrender. Neben diesen Hürden, die wir jedoch noch überwinden konnten, machten uns die Konflikte, die zwischen den Lehrern und uns Schülern entstanden, ziemlich zu schaffen.

Wir sind uns im Klaren, daß sich über Lerninhalte und die Form der Unterrichtsgestaltung ebenso ergebnislos streiten läßt, wie über die Kompetenz eines Lehrers und dessen Benotung.

Es gibt aber Dinge, die einfach im täglichen Umgang miteinander absolut überflüssig sind. Zum Beispiel, wenn man als Schülerin oder Schüler vor dem Lehrerzimmer, dem „Olymp der Pädagogen” steht und von der erwarteten Lehrperson bewußt ignoriert wird. Oder wenn manche Lehrer einem angehenden Abiturienten offensichtlich nicht zutrauen, in der Bibliothek selbständig, also ohne Aufsicht, zu arbeiten.
In solchen Situationen zeigte sich die Arroganz einiger Lehrer, die uns anscheinend nicht als gleichwertige menschliche Wesen betrachteten. In diesem Zusammenhang möchten wir einen Lehrer zitieren, der einmal sagte: „Ob Schüler oder Lehrer, wir sitzen doch alle im gleichen Boot!“ Das ist sicher richtig, aber nur die Lehrer verfügen über Schwimmwesten.

Glücklicherweise prägten nicht nur Konfrontation und Kollision unsere Schullaufbahn, sondern auch durchaus positive Erlebnisse.
In 13 Jahren Schulzeit entwickelten sich zwischen uns Schülern zum Teil richtige Freundschaften.
Gleichzeitig wuchs in uns die Erkenntnis: Nicht alle Lehrer sind von Grund auf schlecht!
Vor allem auf Kurstreffen und Studienfahrten zeigten sich oft unerwartet menschliche Qualitäten, die im normalen Schulalltag wohl kaum zum Vorschein gekommen wären.

Nun ist die Schulzeit vorbei!

Wenn man sich das erst einmal vergegenwärtigt hat (was gar nicht so einfach ist!), stellen sich zwiespältige Gefühle ein:

Auf der einen Seite sind wir erleichtert, daß alles vorbei ist, und neugierig auf das, was uns erwartet.
Auf der anderen Seite fühlen wir uns unsicher, bedauern, daß alles auseinander geht und fürchten uns ein wenig vor dem, was uns bevorsteht. Aber wie auch immer, eins ist sicher: Jetzt wird sich an uns zeigen,
ob die Lehrer, als sie versuchten, uns auf’s Leben vorzubereiten, wußten, wovon sie sprachen,
ob das Wissen, daß sie uns und wir uns in 13 Jahren Schule eingepaukt haben, sinnvoll sein und ausreichen wird,
und ob die Erwartungen, die nach einem bestandenen Abitur an uns geknüpft werden, wirklich realistisch sind. Wir werden es ja sehen! Vielen Dank!

Hagen Pannenborg & Iris Weber

 


 

Für die Schule: Helmut Brammer

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Liebe Eltern!
Lieber Jahrgang Zwölf, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gleich wird der Abiturjahrgang 1988 die Zeugnisse in die Hand bekommen und hinaus ins Leben gehen.
Aber ich will hier nicht Bilanz ziehen.

Es war einmal ein Kind. Das wurde böse. Es lernte hassen und entwickelte ungekannte Destruktivität.
Und. ein anderes Kind war gut. Es liebte. Woher kommt das Böse, und woher kommt das Gute im Menschen? Sind beide, wie die griechischen Philosophen formulierten, φυσει (phýsei), also von Natur aus, oder sind sie θεσει (thései) – also gesetzt, gemacht, vom Menschen gemacht?

Machen wir es uns nicht zu. einfach, und lassen wir einmal die wieder modern werdenden Meinungen beiseite, daß der Mensch doch weiter genetisch geprägt sei als man angenommen hatte, bis hinein in den Charakter.

Oft genug enden ja auch im Unterricht die Diskussionen ums Menschenbild so deprimierend, daß man feststellt, der Mensch, der sei hält so. Und er sei eben schlecht, der alte Adam.

Zunächst ist er’s nicht. Wenn er auf die Welt kommt, ist der Mensch nicht böse. Er will bloß leben. Dazu braucht er Milch, Wärme und Liebe.

Sokrates hat einmal das Neugeborene, das Kind und den Menschen mit einem Stück Wachs verglichen, das geprägt, geformt wird; je mehr Zeit vergeht, um so härter wird das Wachs, und umso schwerer wird es formbar. –

Und je früher, umso leichter, weil das Wachs noch weich ist. Blicken wir zunächst in die Kinderstube des einen Kindes, desjenigen Kindes, das böse war.

Es wurde vor fast 100 Jahren geboren, und zwar 13 Monate, nachdem binnen weniger Wochen seine drei Geschwister an Diphtherie gestorben waren, zweieinhalb, eineinviertel Jahre und drei Tage alt, Gustav, Otto und Ida. Die. Mutter, selbst noch jugendlich, sah wohl der Geburt angstvoll entgegen. Und sie ging außerordentlich mit dem kleinen Sohn um, als der das ‚Licht der Welt erblickt hatte. Würde er auch das Schicksal seiner Ge­schwister erleiden? War sie überhaupt fähig, Mutter zu sein? Wofür wollte Gott sie strafen? Mit ihrem Mann, einem jähzornigen, herrischen, trunksüchtigen, aufgeblasenen Uniformfetischisten, kann sie über diese Ängste nicht sprechen, sich ihm nicht offenbaren. Sie ist allein.

Ein englischer Autor, der durch Gruselgeschichten bekannt geworden ist, findet für seine erzählende Version von der Geburt und den Gesprächen der Eltern mit dem Arzt am Wochenbett den Titel „Genesis und Katastrophe“.

Denn es handelt sich um Klara und Alois mit ihrem Sohn, den sie Adolf nennen werden, die Familie Hitler aus Braunau am Inn.

Von Adolf Hitler nun haben wir alle eine bestimmte Vorstellung gewonnen, und auch der Unterricht, namentlich in meinem Fach Geschichte, darf nicht an diesem Monstrum vorbeigehen. Aber meistens betrachten wir sein Handeln, seine Absichten, die Folgen. Das ist viel, aber wir hören meistens dort auf, müssen es wohl auch.

Für einen Historiker ist es sicher ungewöhnlich, sich einer geschichtlichen Figur auf diese Weise zu nähern, wie ich es hier versuchen will. Aber vielleicht gelangen wir, wenn wir die Privatsphäre, die Kinderstube betrachten, in einem ganz anderen Sinne „ad fontes“, zu den Quellen, zu den Quellen des Handelns und der verborgenen Motive.

Wäre der Menschheit also die „Katastrophe“ Hitler erspart geblieben, wenn die „Genesis“, die Geburt des Adolf nicht stattgefunden hätte? Wohl möglich.

Aber sie ist uns nicht erspart geblieben, denn das vierte Kind der Familie Hitler, Adolf, wird leben. – –

Kaum daß es lebt, beginnt die Tötung des Lebendigen in ihm, die Abtötung seines Gefühls.

Die Mutter, allein mit ihren Ängsten und Zweifeln, wird ihm kaum Festigkeit gegeben haben. Zu unsicher und zu schwach, ihm Wärme zu geben, Zuwendung, erfüllt sie eher ihre Pflicht. Und später kann er, Adolf Hit­ler, Zuwendung nur bekommen, wenn er „brav“ ist. Er muß sich die Mutterliebe erkaufen!

Und die Mutter lebt ja auch in ständiger Angst vor dem Vater, Alois Hitler, k.u.k. Zollbeamter. Sie fürchtet seine Ausbrüche, seine Raserei, seinen Jähzorn, wenn er aus der Wirtschaft kommt. Was ist das für ein Mann gewesen, dessen Sohn noch in „Mein Kampf“ von ihm als „Herr Vater“ spricht? Der seinen Sohn nicht ruft, sondern auf zwei Fingern nach ihm pfeift, wie er auch den Hund zu sich pfeift?

Der Sohn jedenfalls bekommt von ihm täglich eine Tracht Prügel, oft bis er fast besinnungslos ist. Und wie im Dienst gegenüber den Untergebenen und den Zivilisten hält er auf Distanz. Zärtlichkeit, Liebe? Er drückte sich in Schlägen aus. Als Adolf einmal von zuhause weglaufen will, um der Gewalt zu entfliehen, auf einem selbstgebauten Floß, wird er gefaßt und fast zu Tode geprügelt.

Der Vater will, daß Adolf Beamter wird – wie er. Das kommt nun gar nicht in Frage für den Jungen – der will anders werden, Indianer vielleicht. Er verweigert sich; auf der Realschule versagt er. Der Vater versucht, ihm den Lernwillen -einzuprügeln.

Einmal, nach einer solchen Prügelorgie, kommt der 1O-jährige stolz zur Mutter und berichtet strahlend: „32 Schläge – und ich habe sie ausgehalten, habe nicht geweint.“

Nun hat er gelernt, seine Gefühle zu unterdrücken, selbst extremen Schmerz in sich hineinzufressen – wie ein Indianer. Und ist sein Stolz vielleicht auch der Stolz darüber, daß er sich mit dem Unterdrücker identifiziert hat?

Mehrfach steht er auf einer kleinen Erhebung im Gelände, auf dem Schulhof und deklamiert, die anderen hören ihm zu. Das genießt er, einmal muß nicht er zuhören. Er ahmt den Vater und seine Moralpredigten nach. Gleichzeitig genießt er es, der Anführer zu sein und nicht der Geschlagene und Getretene. –

Um es klar zu sagen, ich will kein Mitleid erzeugen mit dem größten Verbrecher, den dieser Planet gekannt hat. Ich denke darüber nach, wie aus dem hilflosen Kind der Verbrecher geworden sein mag.

Außergewöhnliche historische Umstände haben es ihm ermöglicht, diesen Weg zu gehen, Umstände, die ich hier nicht betrachten kann und die auch hinlänglich dokumentiert und erörtert sind.

Das Kind Hitler ist rechtlos. Es ist hilflos der Gewalt ausgeliefert. In der Familie Hitler hat der Vater eine totalitäre Diktatur errichtet. Seine Launen, seine Willkür regieren. Widerspruch duldet er nicht, und das Kind, mit seinem Schmerz alleingelassen, verlernt es, ihn zu leben, mitzuteilen, sich selbst mitzuteilen. Wem auch?

Im Gegenteil, es idealisiert, verehrt den Vater auch wieder – was soll es auch sonst tun? Gewalt mit Gewalt beantworten? Als Kind gegen den ei­genen Vater? Das ist ganz unmöglich, das kann ihm gar nicht in den Sinn kommen, „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter lieben und ehren…“.

Der Weg, seinen Peiniger zu hassen, ist dem Kinde Adolf verstellt, denn es liebt, verehrt den Vater. Wohin mit dem Haß? Denn die Seele vergißt nichts.

Was für eine Welt lernt das Kind Adolf Hitler kennen? Es ist eine Welt voller Gewalt, Willkür, Rechtlosigkeit, eine totalitäre Diktatur. Die Mutter kann ihn nicht schützen.

Niemand zeigt ihm, daß dies nicht die Welt ist. Also formt sich aus Erfahrung sein Weltbild, und so sieht er überall in der Welt böse, heim­tückische Mächte lauern, übermächtig und unberechenbar.

Erfahrungen, die in früher Kindheit gemacht werden, graben sich am tiefsten ein und prägen einen fürs ganze Leben. Welche Verantwortung tragen Erzieher!

Noch einmal zum Vater: Obgleich er ein fleißiger k.u.k.Beamter war, lastete auf ihm mehrfache Schmach, jedenfalls für das damalige Österreich:
Er weiß nicht genau Bescheid über seine Abstammung. Wahrscheinlich ist er uneheliches Kind des Sohnes eines jüdischen Kaufmanns, in dessen Hause seine Mutter – Adolfs Großmutter – als Köchin beschäftigt war. Die Ab­stammung wurde vertuscht, auch der Name Schickelgruber, der Mädchenname der Mutter, wurde geändert in Hitler, den Namen eines Onkels von Alois.

Also nicht bloß unehelich, sondern auch noch jüdischer Abkunft? Zeitlebens kämpfte Hitlers Vater darum, seine Herkunft zu verleugnen. Etwa ein dutzendmal zieht die Familie um – um Spuren zu verwischen?

Wovor lief er weg, der Vater, der sich in eine künstliche, angeklebte, ordenbehangene, scheinbare Identität flüchtete, wenn nicht vor seiner eigenen Geschichte, der unehelichen Geburt, der jüdischen Abkunft, der Armut?

Das damalige Österreich, zumal das Land, war antisemitisch wie kaum ein anderes Land. Immerhin hat Adolf Hitler später in Wien seine entscheidenden Impulse aufgenommen. 1907 geht er dorthin, erfolglos, ziellos, umhergetrieben – und immer noch voller Haß, voll von einem unendlichen, verzehrenden, unauslöschlichen Haß, den er nicht zielgerichtet ablassen kann. Und dann kommt es über ihn: „Seit ich mich mit dieser Frage zu beschäftigen begonnen hatte, auf den Juden erst einmal aufmerksam wurde, erschien mir Wien in einem anderen Lichte als vorher. Wo immer ich ging, sah ich nun Juden…“ Diese Passage aus „Mein Kampf“ liest sich fast wie eine Offenbarung. Der aufgestaute Haß findet ein Objekt und das ist wie eine Erlösung für ihn. Er kann die verbotenen .Gefühle herauslassen, und bald wird ihm die Geschichte die Möglichkeit geben, sein Vernichtungswerk in Szene zu setzen.

Betrachten wir nun die Verbrechen Hitlers, so erscheinen sie als Inszenierungen der eigenen Kindheitswunden:

Im Ariernachweis, den er selbst, wohl nie hatte erbringen müssen, verfolgt er seine eigene Vergangenheit: Nachgewiesen werden mußte die „ari­sche“ Abstammung bis auf den Großvater. Zufall? Im Juden, auf den er sowohl die eigene, verdrängte Gefühlswelt (der schwarzhaarige Judenjunge…) projiziert wie auch wahnhaft den Haß auf den Vater austobt, verfolgt er den Vater – und – sich selbst, seine eigenen Gefühle, Bedürfnisse !

„Meine Pädagogik ist hart. … Das Schwache muß weggehämmert werden.“ Will er nicht jetzt das, was ihm angetan worden ist, über die Jugend eines ganzen Volkes bringen? Genauso, wie er als Kind der Tyrannei ist nun der Teil des jüdischen Volkes in seinem Machtbereich seiner Raserei ausgeliefert – nur in nahezu unendlicher Dimension. Und er setzt damit ein psychisches Perpetuum mobile in Gang – welcher Haß treibt mehr um als der Haß auf sich selbst?

Ich will hier keinesfalls Verbrechen entschuldigen, wer mich kennt, weiß, wie ich zu Hitler und zum Nationalsozialismus stehe. Ich will mit Ihnen darüber nachdenken, woher das Böse kommt. Auch der größte Verbrecher, den die Menschheit bislang gekannt hat, ist nicht als Verbrecher geboren worden.

Und sein gewalttätiger „Herr Vater“ hat sich wohl nichts dabei gedacht, als er ihn mißhandelte, war doch zu seiner Zeit das Schlagen von Kindern , ganz und gar üblich; vielleicht betrachtete er das sogar als Ausdruck elterlicher Liebe und Fürsorge, als Vorbereitung auf das harte Leben? Schließlich war er selbst ein gedemütigtes, geprügeltes Kind gewesen. (Die Deutung von Hitlers Kindheitstraumata entnahm ich dem Buch „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller.)

Er mußte sich sicherlich nicht rechtfertigen für diesen Erziehungsstil, stand er doch ganz in der Überlieferung, im Herkommen, Väter und Vorväter haben’s ja auch so gemacht. Wurde er dadurch weniger unheilvoll?

Sicher war Hitlers Vater nicht bewußt, was er angerichtet hat, aber er hat’s getan, er hat durch seine Gewalttätigkeit einen Sprengsatz in die Welt gelegt. Als der detonierte, kostete das 5O Millionen Menschenleben. Als der detonierte, wurden namenlose Verbrechen begangen. Von wem? Sehr wahrscheinlich trugen die Leute, die sie ausführten, ähnliche Wunden mit sich, nein! in sich, wie ihr vergötterter „Führer“. Wir sollten darüber nachdenken.

Wer Gewalt als Kind, als hilfloses Kind erleidet, der ist in Gefahr, wenn ihm niemand beisteht. Wer selbst Gewaltverbrecher wird, der offen­bart, der inszeniert erlittene Verbrechen, der erzählt von sich selbst, von erlebtem Grauen, Nichts tut die Seele umsonst, und sie vergisst nichts.

Woher kommt das Böse?

Aus der Nichtachtung, aus der Brutalität, der Mißhandlung, aus der Gewalt gegen den Hilflosen, den Unschuldigen, gegen das Kind und aus dem Verbot, den Schmerz darüber zu zeigen, zu leben.

Da mag eingewandt werden: Es sind viele geschlagen worden, und denen hat’s nicht geschadet!

Aber: Ist denn etwas richtig, nur weil es seit Generationen so praktiziert wird? Sollten wir nicht lernen, uns an die Stelle der schwächeren Kreatur zu denken – nein! zu fühlen, uns an ihrer Stelle zu erleben?

Ich möchte nun auf das andere der beiden Kinder zu sprechen kommen.

Bald nach seiner Geburt mußten seine Eltern auswandern, denn es war in Lebensgefahr. Der Landesherr hatte beschlossen, alle Neugeborenen umbrin­gen zu lassen.

Es fällt auf, daß das Neue Testament überhaupt erwähnt, daß ein Paar sein Kind zu retten versucht. Und die anderen? Jedenfalls entkommen die drei, und das Kind kann leben und aufwachsen. Es handelt sich hier um Jesus Christus und seine Eltern. –

Was haben ihm Josef und Maria gegeben?

„Vieles, was Jesus in seinem ganzen Leben gesagt, aber vor allem getan hat, zeigt, daß er … einen … Vater gekannt hat, der sich nirgends in den Vordergrund drängte, der Maria und das Kind beschützte und liebte, der es förderte, in den Mittelpunkt stellte, es bediente. Es muß dieser wirklich bescheidene Josef gewesen sein, der dem Kinde ein Maß für Wahrheit und die Erfahrung der Liebe vermittelt hat.“ (A. Miller, „Du sollst nicht merken“. Frankfurt/M. 1983, S. 125)

Wenn die frühesten Erfahrungen sich am stärksten einprägen, so gilt das auch fürs Positive, fürs Gute.

„Kinder, die man respektiert, lernen Respekt. Kinder, die man bedient, lernen, dem Schwächeren zu dienen. Kinder, die man so liebt, wie sie sind, lernen auch Toleranz.
Auf diesem Boden entstehen ihre eigenen Ideale, die gar nicht anders als menschenfreundlich sein können, weil sie aus der Erfahrung der Liebe hervorgehen.“ (A. Miller, a.a.O., S, 126)

Alfred Andersch beschreibt den Vater Himmlers, einen Direktor eines Gymnasiums, wie er eine Griechischstunde besucht und Schüler wie Lehrer tyrannisiert, eiskalt, schneidend. Himmler kennt seine griechische Grammatik, auch seine antiken Philosophen. Er kann stundenlang über Humanismus deklamieren – und sein Sohn Heinrich hat sich der NSDAP angeschlossen. Er speit seinen Namen voller Abscheu aus. Andersch schließt mit dem Satz: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?!“

Was hat dieser Mann verbreitet? Was tut er Schülern und Lehrern an? Er verbreitet Schrecken und Kälte. In der Tat, gepredigter Humanismus schützt vor gar nichts.

Humanismus kommt von „humanus“, menschlich, und er muß gelebt, nicht nur gesagt werden.

Mein alter Grundschullehrer Karl Methling, der in diesen Tagen 86 Jahre geworden ist, hat folgendermaßen Bilanz gezogen über ca. 50 Jahre Pädagogik:

Wenn keine Liebe ist zum Schüler, taugt die Pädagogik nicht viel.

Viele von Ihnen werden später wie wir, Ihre Lehrer, mit anderen Menschen zu tun haben, ihnen Vorbild sein, sie anleiten.

Was können wir tun? Der erste Schritt ist sicher, öfter innezuhalten und zu überlegen: Warum agiere – oder reagiere ich in diesem Moment so? Was ist das für ein Mensch vor mir? Wie wäre es, wenn Du selbst dort säßest?

Ich muß dem anderen eine Möglichkeit geben, sich zu äußern, nicht bloß funktional – oder: cool, also emotionslos, maskenhaft, sicher ist es kein Zufall, daß diese Einstellung so modern geworden ist -, sondern als Mensch mit seinen Gefühlen. Die können wir ohnehin nicht aus der Welt schaffen, höchstens für den Moment beiseite legen. Denn die Seele vergißt nichts. – Das alles klingt einfach, ist aber ein schwieriger und langwieriger Prozeß. Aber es ist viel!

Ihre Generation ist da auch weitaus eher bereit, Gefühle, Ängste wie Freude, auszudrücken, Einspruch zu erheben. Das ist gut so.

Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich weiß nicht, wie Sie nach gut acht Monaten über unsere Fahrt nach Rom denken. Mir erscheint diese Erinnerung, als sei diese Zeit in Rom so ein Erlebnis menschlicher Nähe und Tiefe gewesen. Sicher liegt das auch an der Stadt selbst, über die Goethe schreibt:
„Ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu diesem Glück der Empfindung bin ich nie wieder gekommen, ich bin, mit meinem Zustand in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder richtig froh gewesen.“

Aber was wäre Rom gewesen ohne Sie, die wissensdurstigen, hungrigen, lebendigen Schülerinnen und Schüler?

Noch einmal:
Einzelne Menschen mögen hartherzig und böse sein, weil sie dazu gemacht worden sind. Aber der Mensch ist gut!

Das Böse im Menschen ist nicht physei, von Natur, sondern es ist gesetzt, von Menschen gemacht. Und wir alle haben es in der Hand, es zu reduzieren.

Ein schwedisches Sprichwort lautet:
„Rikedom är att kunna ge utan vänta något för.“
Reichtum ist, geben zu können, ohne etwas dafür zu erwarten.

Haben wir Mut, reich zu sein!

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Anm.: K.u.k. – “Kaiserlich-königlicher“ österreichisch – ungarischer (Zollbeamter)

Motto:
ABI’SCHIED’88

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