1. Abiturjahrgang 1997

Abiturjahrgang 1997

Christoph Bartlakowski; Silke Basler; Margarethe Bellon; Salvatore Bertino; Inga Blischke; Ralf Bockgrawe; Wolfram Bonnet; Valeska Bonvanie; Kathrin Bösking; Alexander Bosma; Nathalie Bracht; Natascha Carius; Jennifer Ceglarek; Artur Degner; Kathrin Diekmann; Sergej Dölling; Philipp Ehlers; Katharina Feringer; Andreas Fischer; Christine Garthaus; Barbara Goedsche; Daniela Grau; Flora Hartmann; Katharina Höpker; Annabelle Hotz; Sonja Huhndorf; Nadine Huss; Sabrina Kandetzki; Carola Kleine-Börger; Andreas Klos; Daniela Kohlbrecher; Martin Kötter; Helge Krause; Inga Krohn; Alexandra Kucharczyk; Christoph Kuhn; Jens Landwehr; Susan Langer; Nadine Lücke; Kai Lünnemann; Mario Mergner; Melanie Metten; Denis Meyer; Oliver Müller; Tanja Niggemeier; Katja Oehler; Bettina Ortmeyer; Jan Pätzold; Anne-Kathrin Pless; Judith Raude; Oliver Richter; Kerstin Riestenpatt; Anja Roelofsen; Sandy Rosenthal; Sylvia Rybicki; Kai Sauert; Katja Schäffner; Kai Schleibaum; Timo Schmidt; Nadine Schulte; Sonja Schürmann; Carolin Schwerdt; Ulf Schwichtenberg; Ida Schwindt; Andreas Selinger; Nicole Simon; Irina Steinbrecht; Daniela Steins; Kathrin Südhoff; Van Hung Tran; Tanja Vinke; Sarah Weiß; Axel Wetthauer, Lars Wischmeier

 

Prof. Dr. Harding Meyer, Abitur 1947 (Foto: EMA)

Ansprache zur Abitur-Entlassungsfeier Ernst-Moritz-Arndt Gymnasium.
Osnabrück 27. Juni 1997

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten:
Die einen haben mich gefragt, die anderen mir freundlich gestattet, ein paar Worte an Sie zu richten, die diesjährigen Abiturientinnen und Abiturienten unserer Schule. Ich tue es für diejenigen unter uns, die vor nunmehr genau 50 Jahren als Abiturienten diese Schule verließen.
„1947″! – das erste reguläre Abitur nach dem Kriege. Das „erste demokratische Abitur“, wie einige es genannt haben, obwohl ich nicht weiß, ob es so etwas wie ein „demokratisches“ Abitur überhaupt gibt.
Nun, was jenes Wort vom „ersten demokratischen Abitur meint, ist wohl klar: Ein Abitur in einer plötzlich radikal veränderten politischen und gesellschaftlichen, geistigen und kulturellen Welt. Und wir stolperten damals – verwirrt und fasziniert zugleich – durch diese veränderte und unvertraute Landschaft.
„Verwirrt“- das ist ein sehr schwaches Wort nach all dem, was geschehen war: heraus aus den Schulklasse mit 16 Jahren und mitten hinein in die zusammenbrechenden Kriegsfronten und in das Finale unserer vertrauten Welt. Und nur ein Jahr danach: zurück in dieselbe Schulklasse und auf dieselben Bänke, wo man den Text – ich denke an Heinrich Böll – das „Wanderer kommst du nach Spa…“ aus der letzten Unterrichtsstunde gewissermaßen noch an der Tafel sehen konnte.

Aber alles war anders, ganz anders geworden.

Auch wir selbst: Waren wir denn wirklich noch dieselben?
War ich, der einst überzeugte, dann degradierte Hitlerjugendführer, noch „identisch“ mit dem, der sich nach Kriegsende für den Pastorenberuf entschloss?
„Zukunftsperspektiven“? Die waren allesamt – die grossen und die kleineren – zersplittert wie ein Baum vom Blitzschlag.
Gott sei Dank gab es Männer und Frauen, die im Umbruch der Zeit die grossen Zukunftsperspektiven
erkannten und sie zu verwirklichen wussten. Aber wir selbst – 19-jährige Abiturienten wie Sie?
Unsere geistige Orientierung? – Nach allem, was vorausgegangen war, unklar und tastend.
Unsere Berufsziele? – Bei den meisten wechselnd, bis man dann, nach einiger Zeit, bei einem blieb.
Die Universitäten? – Blockiert durch den „numerus clausus“ und den Strom älterer, berufsloser Kriegsteilnehmer.
Mancher – auch ich selbst – fragte sich, was er denn in den bevorstehenden Wartejahren machen solle. Kurz: „Ungewissheit“ – das war für uns das Signum jener Zeit.
Und heute, ein halbes Jahrhundert später?
„Die Geschichte ‚wiederholt‘ sich nicht“, so lautet ein Kernsatz unseres abendländischen geschichts-philosophischen Credos: Vereinfachende Gleichsetzungen historischer Situationen sind nicht möglich. Aber doch ist Geschichte voller Analogien und Vergleichbarkeiten, bedrohlicher aber auch ermutigender Vergleichbarkeiten.
„Ungewissheit“ – ist das nicht auch für Sie ein Signum Ihrer Zeit? Dabei verkenne ich nicht die Differenz zwischen Ihrer und unserer Situation. Unsere „Ungewissheit“ damals entsprang aus dem, was wir im Rücken hatten: dem erfahrenen Zusammenbruch unserer vertrauten Welt. Für Sie dagegen kommt die „Ungewissheit“ von vorne auf Sie zu, eine Ungewissheit nicht nur im Blick auf Ihre persönliche und berufliche Zukunft, auch im Blick auf die Zukunft unserer bewohnbaren Erde.
Jedoch vergleichbar sind sie trotz allem, unsere damalige und Ihre „Ungewissheit“, durch die keine klaren Schneisen, keine eindeutigen Orientierungen, keine scharfumrissenen Zielvorstellungen hindurchzuführen schienen und scheinen.
Aber bei diesem, eher bedrohlichen Vergleich Ihrer und unserer damaligen Situation will ich nicht stehen bleiben. Was trüge das schon aus?
In erster Linie geht es mit um etwas anderes, nämlich darum, wie wir damals mit unserer „Ungewissheit“ zurechtgekommen sind und sie durchstanden haben.
Wenn ich das zu erinnern und im Rückblick zu deuten versuche, dann kommen mir nicht in erster Linie jene heroischen Werte – „Tugenden“, hätten wir damals wohl gesagt – in den Sinn, als da sind: Einsatzfreude, Beharrlichkeit, Hingabe, Arbeitswille usw. Missverstehen Sie mich nicht! All das war ganz gewiss mit im Spiel.
Aber diese Werte oder meinethalben „Tugenden“ kann man nicht mit einem blossen „Du sollst“ abrufen oder hervorlocken, Sie hängen allesamt – Einsatzfreude, Beharrlichkeit, Hingabe, Arbeitswille -von einer letzten Grundvoraussetzung ab: von einer elementaren Zuversichtlichkeit im Blick auf unser menschliches Dasein und unsere Welt, eine Zuversicht darauf, dass sich die Dinge – auf irgendeine Weise – fügen werden. „Glaube“, sagen die Religionen, „Vertrauen“ auf Gott, den Schöpfer und Bewahrer unserer Welt und unseres Lebens. „Trust“, sagt die englische Sprache, und das klingt in seiner lapidaren Einsilbigkeit noch stärker als unser deutsches „Zuversicht“ – so stark, wie „Zuversicht in der Tat sein sollte.
Ich erinnere mich: in meiner Abitursrede vor 50 Jahren zitierte ich das Wort aus dem „Faust“ von den „lockenden Ufern des neuen Tages“. Nun, für uns waren diese „lockenden Ufer“ in einem Nebel verborgen. Aber wir waren doch zuversichtlich, dass es – irgendwo – diese Ufer gab. Und es gab sie wirklich!

Ich glaube, dass wir alle damals diese elementare Zuversichtlichkeit in uns spürten. Und ich bin überzeugt, dass sie es war, die sich gegen unsere Unwissenheit anstemmte und die uns letztlich half, mit ihr fertig zu werden.

Diese tiefe und feste Zuversicht wünsche ich Ihnen an diesem Tage und über diesen Tag hinaus. Möge Ihre Zeit und unsere damalige Zeit sich auch und gerade darin als vergleichbar erweisen.

Prof. Dr. Harding Meyer

aus: ema-report 1997, S. 10ff.; die Schreibung entspricht der dort verwendeten.

 


 

Für die Schule: Thomas Johannsmeier
Thomas Johannsmeier (Foto: EMA)

Liebe Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kollegen, meine Damen und Herren.
Ein Kunstlehrer hält die Abirede?
Der eine oder andere von Ihnen wird doch angesichts dieser Nachricht vielleicht etwas erstaunt und amüsiert gewesen sein, gilt doch der Kunsterzieher gemeinhin an Schulen nicht gerade als derjenige, der zu philosophischen oder philologischen Höhenflügen berufen ist. Gilt er doch eher als Mann der Praxis, als der Macher.
An dieser Schule ist er derjenige, der mit Kunst, Tee, Plätzchen und Musik die Pausen zwischen den wirklich wichtigen Fächern versüßt. Auch deshalb habe ich mich gefragt, warum Sie gerade mich ausgewählt haben und bin zu dem Schluß gekommen, daß Sie mich vielleicht aus den oben genannten Gründen gewählt haben, und daß Sie jetzt eine Abirede erwarten, die diesem Bild eines Kunstlehrers auch gerecht wird. Hier stehe ich also, und Sie 1997-johwerden feststellen, daß schon meine äußere Erscheinung nicht den Anforderungen einer Abiturentlassung standhält. Der eine oder andere von Ihnen hat vorhin vielleicht schon eine Bemerkung gemacht, z.B.: Kann sich der Johannsmeier nicht mal zur Abientlassung vernünftig anziehen?
Ich werde diesen Eindruck jetzt noch verstärken, indem ich jetzt mein Jackett ausziehe und Ihnen das präsentiere, was ich als Grundgedanken meiner Rede entwickeln möchte. Nicht jedem ist es vergönnt, das Motto seiner Rede auf der Brust zu tragen. Für den Fall, daß Sie es nicht alle sehen können, lese ich laut vor, was auf meiner Brust steht:
Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Ich sehe schon Ihren Zweifel, wenn nicht gar Ihr Erschrecken: Es kann doch in einer Abirede nicht im Ernst darum gehen, daß Chaos zu beschwören, scheint doch das Wort all dem zu wiedersprechen, wozu wir Sie in 13, 14 oder vielleicht auch 15 Jahren erzogen haben, scheint es doch der Vorstellung von Schule überhaupt zu widersprechen. Schule besteht doch aus Erlässen, Lehrplänen, Rahmenrichtlinien, Stundentafeln, Stundenplänen, Raumplänen, Zeugnissen, Noten, Hausordnungen, usw., alles Dinge, die ordnen, disziplinieren, den Umgang miteinander regeln und, letztendlich, das Chaos bekämpfen. Auch diese Veranstaltung ist nur möglich, weil sie sich gewissen Ordnungsprinzipien unterwerfen – es ist niemand zu spät gekommen. Sie werden jetzt zu Recht fragen: „Wie soll denn Schule anders funktionieren.“
Mir geht es nicht darum, die Schüler zum Vandalismus aufzurufen, mich auf ein Chemieexperiment zu freuen, daß den naturwissenschaftlichen Trakt der Schule vernichtet oder das Recht des Stärkeren in seiner freiesten Form zu propagieren. Ich gebe Ihnen recht, ein Stück weit kann Schule ohne diese Prinzipien in unserer Gesellschaft nicht bestehen. Aber sie allein machen Schule nicht aus. Ob man nun ohne diese Prinzipien in der Schule leben könnte, diese Frage möchte ich gern kompetenteren Leuten überlassen, die sich seit Jahrzehnten Gedanken über die Reform von Schule machen und je nach politischer Couleur entweder nach mehr oder weniger Ordnung schreien. Nein, darum geht es mir hier nicht.
Ich möchte mich zunächst dem Begriff Chaos nähern, und Sie werden sehen, daß Chaos nicht der Definition entspricht, die langläufig in unseren Köpfen herumspukt.
Nietzsche selbst begreift Chaos als den Grundcharakter der Welt. Dies allein bringt uns noch nicht viel weiter, zeigt aber doch, daß Chaos etwas wie eine Grundvoraussetzung ist, die in jedem einzelnen wiederzufinden ist.
Die antike Philosophie definiert Chaos als „der mit ungeformtem und unbegrenztem Kraftstoff gefüllt, noch nicht die Gliederung der Dinge enthaltende Raum als Vorstufe des endlichen und wohlgeordneten Kosmos.“
Ich glaube jeder von Ihnen wird jetzt nachvollziehen können, daß jeder Schüler, bevor er die Schule betritt, ein Teil dieses Raumes ist, der mit ungeformtem und unbegrenztem Krafstoff gefüllt ist. Wir Lehrer versuchen, aus diesem Stoff einen Teil des wohlgeordneten Kosmos zu machen.
Das gelingt uns sehr unterschiedlich, aber im Prinzip ist völlig offen, wie weit wir bei jedem Schüler damit kommen und in welchem Fach dies betrieben wird, denn gibt es nicht auch in der Mathematik eine Chaostheorie?
Sie also, liebe Abiturienten, würde ich als einen Teil begreifen, der sich diesem wohlgeordneten Kosmos angenähert hat. Trotzdem aber hoffe ich, daß Sie noch immer etwas Chaos in sich tragen, denn Bodmer sagt: „Chaos sei die Kraft zur Hervorbringung der Welt“, und daß Sie noch einen großen Anteil an der Hervorbringung, Gestaltung und Veränderung dieser Welt haben werden, daß ist zu hoffen.
Können wir uns mit dieser Definition des produktiven Chaos anfreunden, bliebe noch das Bild des tanzenden Sterns zu deuten. Wofür steht er?
Meiner Ansicht nach, ist er das Symbol für all das, was Sie in Ihrem Leben noch bewerkstelligen, hervorbringen können. Er steht sicherlich für etwas Besonderes, Außergewöhnliches. Das Tanzen symbolisiert die Notwendigkeit, nicht zu erstarren, beweglich zu bleiben und Spaß zu haben, kurz und gut, etwas hervorzubringen, von dem Sie am Ende Ihres Lebens sagen können, dafür hat es sich gelohnt, zu arbeiten, zu kämpfen und zu leben.
Sie stehen jetzt an der Schwelle zu einem Lebensabschnitt, in dem Sie individuell und selbstbestimmt Ihre Fähigkeiten einsetzen können. Schule hat dazu nur eine Vorbereitung geleistet, das Chaos in Ihnen etwas geordnet, Ihnen beigebracht, Ihre Kräfte und Fähigkeiten zu erkennen und zu nutzen.
Sicherlich haben Sie auch schon in Ihrer Schulzeit manch tanzenden Stern geboren. Eine außergewöhnlich gute Arbeit, eine Rolle in einem Theaterstück, ein gelungenes Bild, ein geglücktes Experiment, ein außergewöhnlicher Aufsatz-jeder von Ihnen hat sicherlich seinen Stern irgendwo im Hinterkopf, vielleicht hat er ihn aber auch gerade nicht im Bereich der Schule geboren. Das ist letztendlich egal.
Was braucht man, um etwas Ungewöhnliches zu leisten? Phantasie, Kreativität, Mut, einen Schritt ins Unbekannte zu tun, das Chaos in sich zu nutzen und es formen zu wollen. Hier liegt nun der besondere Stellenwert meines Faches, und auf diesem kleinen Exkurs möchte ich an dieser Stelle nicht verzichten, um vielleicht dem gerecht zu werden, was die Abiturienten veranlaßt hat, Ihren Kunstlehrer für diese Rede auszusuchen.
Besonders im Kunstunterricht werden der individuelle Zugang und die eigene Kreativität gefördert.
Der Schüler wird gezwungen, sich mit sich selbst auseinander zu setzen und diese Auseinandersetzung auch noch öffentlich zu machen. Dieser Umgang mit sich selbst, diese Frage nach der individuellen Sicht der Dinge in Verbindung mit theoretischen Einsichten in die Gesetze der Kunst soll neugierig machen auf das Unbekannte, soll Mut machen, Nichtwissen in Wissenwollen umzupolen. Die richtigen Fragen stellen, nicht alle Antworten wissen. Große Kinder bleiben, spielen wollen, Augen und Ohren für alles Neue offen halten und sich dann mit Instinkt und Verstand ein Urteil bilden, dies macht die Kunst möglich, dies ist ihre besondere Bedeutung in der Schule.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, nicht nur Künstler brauchen diesen Zugang zur Welt. Jeder, der sein Leben nicht in vorgefertigten Gedankengebäuden verbringen will, braucht Mut, sich neuen Dingen fragend zu nähern, braucht Kreativität, um unerwartete Lösungen zu finden, braucht einen gebildeten Instinkt, um das Leben gestalten und genießen zu können.
Was bleibt mir, ist klar. Ich wünsche Ihnen allen, daß Sie noch so viel Chaos in sich tragen, daß es Ihnen gelingen wird, viele tanzende Sterne zu gebären.
Vielen Dank !

aus: ema-report 1997, S. 13ff.

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