1. Abiturjahrgang 1999

Abiturjahrgang 1999

Affeld, Bernhard; Ahlemeyer, Iris; Bastron, Oxana; Becker, Meike; Bongalski, Leif; Buchholz, Christian; Buchmüller, Helena; Bücker, Sven; Calmer, Simone; Capell, Inga; Cinibulak, Perihan; Danilow, Anastasia; Danilow, Wladimir; Deck, Alexander; Deibert, Edgar; Detzel, Ludmilla; Dünhötter, Nina; Fehren, Timo; Gardemann, Tanja; Gernand, Jana; Gibmeyer, Daniela; Helms, Eddy Jun; Hinxlage, Stefanie; Jović, Jasna; Junker, Elena; Junker, Rodion; Kessler, Leo; Kinner, Matthias; Kirchner, Bastian; Kirnatz, Henrietta; König, Ann-Kristin; Komarnicki, Corinna; Komesker, Oliver; Kuhlmann, Kristina; Kwittschenko, Svetlana; Lange, Björn, Michael; Langkamp, Kathrin; Lehmann, Andreas; Lück, Claudia; Lüttschwager, Simona; Maier, Svetlana; Merker, Swetlana; Middelberg, Constanze; Nowak, Marco; Nützmann, Fabienne; Paul, Daniela; Prisco, Sarah; Queren, Stefanie; Radicke. Kathrin; Rzadkowski, Holger; Scharmacher, Thorsten; Schmid, Sabine; Schmiddem, Melanie; Scholten, Mirco; Seiler, Marcel; Sommer, Christoph; Steinke, Dimitri; Stiene, Marcus; Thiel, Marius; Vasserman, Evelina; Volmer, Inga; Volz, Dennis; Wagner, Marina; Wiesner, Jacqueline; Wissing, Jan-Maik; Zurlutter, Sebastian

Foto: EMA

Quelle: EMA-REPORT 1999

 

 

Die Reden:

Begrüßung: Hartmut Bruns, Schulleiter
Für den Jahrgang: Simona Lüttschwager
Für die Schule: Helmut Brammer-Willenbrock

Für den Abiturjahrgang 1999: Simona Lüttschwager

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebes Lehrerkollegium,liebe Eltern, Freunde und Mitschüler.
Die letzte Besatzung in diesem Jahrtausend geht von Bord. Aber die Erinnerung an eine sowohl erlebnisreiche als auch anstrengende Schulzeit wird bleiben. In den letzten Jahren ist viel passiert, das nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer geprägt hat. So wissen wir heute, daß Feuerlöscher für Mittelstufenschüler gefährliche Spielzeuge sind, Klassenräume vorsichtshalber immer abgeschlossen sein sollten – ich erinnere an eine Verwüstung (mit Folgen) – und daß es in diesem Gebäude nicht für jeden Schrank einen Schlüssel gibt. So würde Marius wahrscheinlich heute noch im Schrank sitzen, wenn Herr Brammer nicht todesmutig mit dem Kartenständer die Rückwand eingeschlagen hätte. Auch auf Klassenfahrten gab es so manches Mißgeschick, aber davon wollen wir jetzt lieber nicht sprechen.
Es gäbe sicherlich noch viel zu berichten aus vergangenen Zeiten, aber das, was für uns nun zählt, ist die Zukunft.
Das Problem beginnt mit dem großen Mißverständnis, das in unseren Köpfen lebt: wir hätten es jetzt geschafft! Das Abitur ist jedoch erst der Anfang und nicht das Ende. An alle diejenigen, die es nicht geschafft haben: Verzweifelt nicht! „Jeder Schritt ist ein Schritt zum Ziel. Das gilt auch für Rückschritte.“ Uns, die das Abiturzeugnis nun in den Händen halten, ist eine große Auswahl an Möglichkeiten geboten, doch die richtige Entscheidung zu treffen, liegt nun allein bei uns, ganz allein. Es wird nicht mehr vorgegeben, welche Kurse zu belegen sind, um an das gewünschte Ziel zu gelangen: Das Ziel glücklich zu werden!
Für einige beginnt eine Zukunft in der Fremde, ohne das vertraute Umfeld, andere werden ihren Lebensweg noch eine Weile gemeinsam bestreiten. Ich hoffe, daß die Freundschaften, die während der Fahrt auf der Emanic geschlossen wurden, auch beim Sprung ins kalte Wasser erhalten bleiben, aber das hofft man wohl immer.
Eine weitere Erkenntnis liegt darin, daß das Abitur zwar unsere schulischen Fähigkeiten und unseren Fleiß bestätigt (meistens jedenfalls), aber über unsere inneren Werte nichts aussagt. So sind wir alle nicht fehlerlos, weder Schüler, noch Lehrer, und deswegen sollten wir bereit sein Fehler zu vergeben und die Tatsache der menschlichen Fehlbarkeit akzeptieren. Nur so bleibt uns allen der Abschied von der Emanic in guter Erinnerung.
An dieser Stelle wird es nun Zeit, an einige das Wort persönlich zu richten, ihnen zu danken und sie zu loben: So an Herrn Bruns und Herrn Jonas, die das Schiff mit großem Einsatz lenken, und an ihre zahlreichen Helfer, die der Besatzung mit Rat und Tat zur Seite standen. Besonderer Dank gilt Herrn Pratzat, der seit einigen Jahren tatenkräftig die SV unterstützt. Von Herrn Johannsmeier wünschen wir uns, daß er auch weiterhin immer einen tröstenden Spruch für frustrierte Schüler auf den Lippen hat. Vielen Dank im Namen der ehemaligen 11a an C.K.F. Budke, der immer zu uns hielt, obwohl wir ihm das Leben oft nicht leicht gemacht haben, dem Mathewolf. Besonders stolz sind wir auf Matthias Kinner, der als ehemaliger Hauptschüler heute, entgegengesetzt der Erwartung einiger Lehrkörper, sein Abitur erfolgreich bestanden hat, und auf die Nachprüflinge, die bis zum Ende alles gaben, um das Abitur doch noch zu bestehen. Nochmals: Herzlichen Glückwunsch.
Ich wünsche Euch allen die Zukunft, die Ihr Euch erhofft habt. Ich werde Euch vermissen.

Abschließend möchte ich noch ein Gedicht aus der ABI-Zeitung zitieren:

 

Der Abschied

Den Weg in die Schule wir fanden,
zum Pauken bestellt,
das ABI bestanden,
jetzt gefällt uns die Welt!

Wir sehen uns alle
auf lange nicht mehr,
es tut nicht gefalle,
das Herz wird so schwer.

Wir blicken in die Zukunft,
schon bald wird’s passieren,
ohne viel Vernunft,
wir unser erstes Gehalt kassieren!

hr glücklichen Augen,
was je ihr geseh’n,
es sei wie es wolle,
es war doch so schön.

Simona Lüttschwager

Quelle: EMA-Report 1999, S. 27f.

 

Rede über das GROSSE ICH – oder: der EINZELNE UND DIE GESELLSCHAFT

1. Beobachtungen:

Wegschmeißen von Müll in die Landschaft, Dosen allüberall
Umgang mit öffentlichem Eigentum („gehört doch nicht mir“)
Zuparken auch von Behindertenparkplätzen
„Ist mir doch egal, ob Du Dich erkältest! Ich will, daß jetzt das Fenster offen ist!”
Müll wegräumen – dafür gibt’s doch „Putzfrauen”
Auf Klassenfahrten: Abräumen? Ich nicht, das machen andere für mich …

Haben wir für sowas Personal? Sind wir uns zu fein, das, was wir verursacht haben, in Ordnung zu bringen? Leben wir im Zeitalter der Sklaverei?
Ein Blick auf die deutschen Autobahnen zeigt: Ganz viele fahren, als gäbe es nicht 42 Millionen Fahrzeuge und die Durchreisenden, sondern nur das eigene auf Deutschlands Straßen Autobahn. Offene Psychiatrie, so nannten Zeitungskommentatoren mehrfach diese Zustände.

Leben wir einem schlechten Film, den die Ballermann-6-Leute „geil” finden?

Talkshows – machen Sie sich mal den Spaß und tragen nur die Titel von 2 oder 3 Wochen zusammen – soll ich mal eine Kostprobe geben? – sind sensationslüstern und abseitig, andere Sendungen triefen vor Schadenfreude (Pleiten, Pech und Pannen, die Anmache in den late-night-shows, die bevorzugt unter die Gürtellinie gehen soll, die körperlichen Übergriffe in anderen shows von Jeremy Springer. (Ich komme darauf noch zurück.) Das Niveau der Unterhaltung in unserem Land hat längst das Niveau von Ballermann 6 erreicht. Die Fäkalsprache und der ordinäre Umgang auf dem Niveau von Ballermann 6 findet sogar Eingang in die Abi-Zeitung.

2. Intention:

Rutschen wir in die Trivialität ab?
Oder nimmt der Autismus zu, jene schwere Erkrankung, die den Menschen daran hindert, den anderen wahrzunehmen und nur noch sich selbst in genau geregelter Umgebung sehen macht?
Oder zerfällt bloß unsere Gesellschaft und Zivilisation in ihre Bestandteile?

Ich will hier eine ganz persönliche Sicht von Entwicklungen vortragen, die sich zum Teil unter der Oberfläche zugetragen haben mögen und noch zutragen. Ich will versuchen, eine Erklärung zu geben und die Verantwortung, die wir tragen an der Schule und auch Sie, die zukünftigen Inhaber verantwortlicher Positionen und die bald bestimmende Generation aufzuzeigen.

Dazu will ich drei auf Autoren als analytische Gehhilfe zurückgreifen, einen aus der griechischen Antike (wer hätte das gedacht?), einen aus dem 17. Jahrhundert und einen aus unserer Zeit.

3. Analyse:

Seit es Menschen gibt, gibt es Gesellschaft. Ohne gesellschaftliche Abläufe keine Menschen. Ganz konkret: Keiner von uns lebt aus sich selbst, oder wollte einer behaupten, ohne Eltern gäbe es ein Kind?
Und ohne die Zuwendung anderer, älterer Menschen könnte kein Mensch aufwachsen. (Auch Robinson Crusoe konnte nur als Erwachsener gedacht werden.) Übrigens wußte das längst Aristoteles (der erste der drei Autoren), der das dann auf die Formel brachte: Ἄνθρωπος ζον πολιτικόν – (ánthropos zóon politikón) – der Mensch, ein gesellschaftliches Wesen – er hat sicherlich absichtlich das Hilfsverb „ist” ausgelassen, das braucht es nicht, so eng und selbstverständlich ist dieser Zusammenhang „Mensch=gesellschaftliches Wesen”, genau wie „cogito sum” – „ich denke, ich bin”; das „also” kann getrost fehlen, ohne Denken kein Sein des Menschen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Gesellschaftliches Wesen also, daraus folgt, daß eine Gesellschaft nicht funktionieren kann, wenn eines ihrer Glieder sich über andere stellt, sich für besser hält. Gesellschaft erfordert, daß ich mich selbst in dem anderen erblicke und erfühle, daß ich mit ihm fühle, Empathie nennen manche das. Immer dann, wenn Menschen sich über andere erheben, andere für minderwertig halten und sie sogar zum Abschuß freigeben, wie in den abscheulichen Massenmorden der totalitären Diktaturen dieses Jahrhunderts oder in dem Massenmord auf dem Balkan, immer dann sind gesellschaftliche Zusammenhalte schon zerbrochen, rast die Zivilisation in den Abgrund der Barbarei.

Das Neue und besonders Perfide an den Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts ist es ja gerade, daß die Opfer keine Chance des Entkommens mehr haben. Nichtchristen hatten, vor die Alternative „Taufe oder Tod” gestellt, eine Überlebenschance: die Taufe.
Die Einwohner von den Römern belagerter Städte konnten sich ihnen ergeben und so der Ermordung entgehen – wenngleich in der Sklaverei.
Die völkermordenden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts aber sind zum einen ausgestattet mit den technischen und infrastrukturellen Möglichkeiten des modernen Staates. Aber, was viel wichtiger ist, moderne Völkermörder verfolgen und morden aufgrund eines Kriteriums, das tatsächlich von dem Individuum überhaupt nicht beeinflußt werden kann: Abstammung. Das ist das einzige, was keiner ändern kann. Haarfarbe, Gesinnung, religiöse Überzeugung, ja, sogar die Augenfarbe durch geeignete Kontaktlinsen kann ich ändern, meine Herkunft nicht und niemals. Werde ich aber deswegen verfolgt, so gibt es kein Entrinnen. „Die Juden sind unser Unglück”, brüllten sie, und: „Einmal Kulak – (Privatbauer in Rußland), immer Kulak”. (Zur Zeit des Stalinismus wäre das, als Sohn eines wohlhabenden Bauern, mein Verbannungs- oder Todesurteil gewesen – no chance.)

Seit es Gesellschaft gibt und seit die Menschen darüber nachdenken, wer sie sind und wie sie leben sollen, denken sie auch darüber nach, wie die Beziehung zwischen ihnen als Einzelpersonen und der Gesellschaft ist: Was gibt ihnen die Gesellschaft – die Gemeinschaft, der Staat; die antiken Griechen hatten für alles dies zunächst bloß die Vokabel πόλις (pólis),  und da sind wir schon bei dem politischen Charakter des Zusammenlebens der Menschen – was also gibt ihnen die Gesellschaft? Was sollen sie der Gesellschaft geben? Wozu Staat? Ist nicht Anarchie – der Zustand ohne Herrschaft, aber eben auch ohne Gesetz – vorzuziehen?

Aristoteles behauptete, der Staat sei von Natur. Das mag angehen, wenn man mit ihm den Staat als πόλις (pólis) versteht, als Gesellschaft im weitesten Sinne. Der Staat habe die Aufgabe, den Menschen das Leben zu ermöglichen (auch einverstanden, wie oben ausgeführt), aber eben nicht bloß das, auch zum guten Leben. Das bedeutet nicht Wohlstand oder „fun”, sondern ein im moralischen Sinne gutes Leben. Das ist ein gewaltiger Anspruch! Dabei war ihm klar:
Mensch ist, wer zwischen Gut und Böse unterscheiden kann; wer das nicht kann, ist ein Tier oder ein Gott.

Wir kommen auf ein grundlegendes Problem unserer Zeit: Was darf man, was nicht? Wo liegen die Grenzen für unser Tun?

Neulich, bei Gelegenheit einer Diskussion über ein Tempolimit (ob 100, wie das Umweltbundesamt vorschlägt, 120 oder gar keins) sagte einer: „Ab 130 hat man doch erst „fun”.”
1982 plärrte ein NDW-Sänger namens Markus das unendlich blöde „Ich will Spaß, ich will Spaß”
Was ist „fun”? Im Straßenverkehr kommt schon mal die fahrlässige Tötung ins Spiel.
Kann „fun” das Lebensziel sein? (Übrigens: Man will „fun haben” – es ist einem also äußerlich, man hat es und man kann es man auch wieder verlieren!)

Die Hooligans im nordfranzösischen Lens, die letztes Jahr während der WM den Polizisten Daniel Nivel fast umbrachten, hatten sicherlich „fun” dabei.

Und hatte nicht auch der ehemalige serbische Hooligan Arkan „fun”, als er und seine Leute nach Fußballspielen mit Schnaps und Musik zugedröhnt mit dem Baseballschläger zuschlagen? Später tauschte er den Baseballschläger gegen die MP. „Fun” war ihm nun, mit seiner Privatarmee in Kroatien, dann in Bosnien und kürzlich im Kosovo zu wüten und Wehrlose zu massakrieren. (Er ist ganz nebenbei auch schwerreich geworden dabei.) (Seine Blutspur wird vom Haager Kriegsverbrechertribunal verfolgt.)

Fernsehfilme ästhetisieren die Gewalt, und in Computerspielen verschwinden ganze Städte und Zivilisationen – und sie können per Mausklick zurückgeholt werden – Pardon, ich habe mich getäuscht. Ah, da ist es wieder. Marios 9. Leben.
Alles ist möglich, und wenn es nicht mehr gefällt, kann man ja weiterzappen. Lustig, wie einem die Zähne ausgeschlagen werden.
Wie man dann ohne Zähne oder ohne Arm weiterlebt, das erzählen einem die Überlebenden, aber nicht im Kino oder im Computerspiel. Das ist dann aber auch nicht mehr lustig.
Viele haben bei der Szene gelacht, als in dem Film „Jurassic Park” der Mann auf dem Klo vom Tyrannosaurus Rex in Stücke gebissen wurde. Ha!Ha!

„Spaß” haben Orientierungsstufenschüler und „Kleine”, wenn sie den – wehrlosen – Mitschüler schurigeln, möglichst drei oder vier gegen einen; „fun” haben manche, wenn sie in der Abi-Zeitung – anonym, versteht sich – Dampf ablassen. Beim Autofahrern kommt der „Kick”, wenn einer in der Kurve oder bei Gegenverkehr so scharf überholt, daß er gerade noch einscheren kann. Wenn einer dabei zu Schaden kommt, Pech für ihn, man ist ja versichert …

Alles geht. Jetzt.

Wie kann man diesen Zustand begrifflich fassen? Wenn alles erlaubt ist, wenn keinem Grenzen gezogen werden, dann ist dies der Zustand des „Krieges aller gegen alle” (bellum omnium contra omnes), wie ihn Th. Hobbes 1651 in seinem Werk „Leviathan” beschrieben hat.

In einem solchen Zustand, in dem die Gesetzlosigkeit regiert, in dem es keine ordnende Macht gibt, ist dem einzelnen Menschen alles erlaubt, weil ihm nichts verboten wird, denn es gibt keine Kraft, die ein Verbot durchsetzen könnte. In einem solchen Zustand hat der Einzelne ein „Recht auf alles”, wie Hobbes formuliert, auch auf den Körper und das Leben des anderen. Die logische Konsequenz ist, daß die menschliche Art kaum überleben könnte. (Wie es aussieht, wenn es keine Staatsgewalt gibt, die das Recht der Menschen auf das nackte Überleben schützt, das kann man seit Monaten im Kosovo studieren, wo zunächst den serbischen Truppen und privaten Verbrechern buchstäblich alles erlaubt war, sie hinterließen verbrannte Erde und Massengräber und zogen sich mit geklauten Fernsehern, Kühlschränken und Autos zurück). Vielleicht hatten auch sie „fun” bei verbrannter Erde mit Baseballkappe und cooler Sonnenbrille auf dem Schützenpanzer.

Hobbes entwickelt für diese Art, die zwischenmenschlichen Beziehungen auszugestalten, die griffige Formulierung: homo homini lupus, „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf”. Und damit sich die Menschen nicht gegenseitig umbringen, schließen sie sich in einem Staatswesen zu-sammen und übertragen das Recht auf alles an den Staat, der nun das Monopol der Gewalt hat in Gestalt von Armee und Polizei.

Wenn ich grenzenlosen Spaß haben will, ohne über die Folgen nachzudenken, ohne zu prüfen, ob ich den anderen verletze, ihn kränke, ihn gar töte, dann ist der gesellschaftliche Konsens, der Zusammenhalt, der Kern unseres Zivilisationsmodells in Gefahr.

„fun” im Sinne oberflächlicher, rüder, hirnloser, verletzender Schadenfreude oder einfach Zügellosigkeit ist dabei, zu der Kategorie, zu der Lebenseinstellung zu werden, die sich anschickt, das Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse zu zersetzen. „Es war doch nur Spaß” – das droht zur Generalabsolution zu werden, „ich wollte nur Spaß haben, als ich wir uns prügelten, was kann ich dafür, daß nun sein Auge kaputt ist?“ „Ich bin nur über den Schulhof gebrettert mit dem Auto, wie soll ich wissen, daß Kinder zu Schaden kommen?“

4. Selbstzwang und Selbstkontrolle

Norbert Elias, 1991 im Alter von 92 Jahren gestorben, hat ein Großteil seiner Forschung dem Problem der Zivilisation, der Zivilisierung, der Zähmung des Menschen gewidmet. Er schreibt (ich will das hier zitieren, die Unglücklichen aus meinen Unterrichtsveranstaltungen kennen das schon):

„Wenn man versuchen wollte, das Schlüsselproblem jedes Zivilisationsprozesses auf seine einfachste Formel zu bringen, dann könnte man sagen, es ist das Problem, wie Menschen für ihre elementaren animalischen Bedürfnisse im Zusammenleben miteinander Befriedigung finden können, ohne daß sie sich bei der Suche nach dieser Befriedigung immer von neuem gegenseitig zerstören, frustrieren, erniedrigen oder in anderer Weise schädigen, also ohne daß die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse des einen Menschen oder der einen Gruppe von Menschen auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung eines anderen oder einer anderen Gruppe geht. […]

Elias unterscheidet dabei 4 Arten von Zwängen, und zwar
1. natürliche oder biologische Zwänge, essen, trinken, schlafen usw. die aus der animalischen, biologischen Natur des Menschen herrühren und denen man nicht sich entziehen kann bei Strafe von Krankheit oder Tod;
2. Zwänge, die sich aus der Natur umgeben, immerhin müssen wir uns auch schützen gegen Kälte, Regen und uns kleiden.
3. Zwänge, die Menschen beim Zusammenleben aufeinander ausüben, schon allein deswegen, weil sie eben nicht allein auf der Welt sind, kommen aus der Gesellschaft, aber auch aus wirtschaftlicher Not: Schließlich ist nichts umsonst, alles ist begrenzt, muß erst hergestellt werden. Elias nennt sie „Fremdzwänge”, weil sie von außen auf das Individuum einwirken. Und jetzt kommt’s. Wir haben
4. die Veranlagung zur „Selbstkontrolle”, schon kraft Verstandes. Erziehung verinnerlicht, was wir dürfen und was nicht. Gewissen fällt unter diese Kategorie, Respekt vor dem anderen. Alles das muß man lernen, verdichtet sich aus Erfahrung.

Selbstzwang und Selbstkontrolle contra „Ich will Spaß” und „anything goes” – das ist das Problem. Nicht nur nehmen Kinder, die vor Fernseher und Computer aufwachsen, ganz andere Werte an. (Bekanntlich kann ein Jugendlicher an seinem 18. Geburtstag auf eine fünfstellige Zahl an Morden und ein Vielfaches an Gewaltakten zurückblicken, bei nur durchschnittlichem Fernsehkonsum. Gewalttätige Computerspiele sind da noch gar nicht mitgezählt.)

Und so kommt es, daß heute in den westeuropäisch-nordamerikanischen Gesellschaften zum Symbol wird der obercoole Typ, der sich mit Sonnenbrille, Baseballkappe und Walkman bzw. aufgedrehten wummernden Autolautsprechern gegen die Umgebung abschirmt, der dabei Dinge um ihn herum nicht mehr wahrnimmt.

Die alten Instanzen der Erziehung wie Elternhaus, Großeltern, Verwandte, Kirche treten zurück in ihrer Bedeutung, auch die Schule. Sie darf es nur nicht, die Schule gerade nicht. Und je höher der Bildungsgrad, um so höher die Verantwortung für das Tun. Zweifellos muß Schule erziehen, und das kann gar nicht immer ohne Zwang abgehen, denn Lernen ist nicht nur „fun“, sondern auch Arbeit und manchmal ganz schön mühselig. Schule muß aber versuchen, diese Einsicht zu wecken, über den Verstand, die Erfahrung, aber über das Gefühl – und so den Selbstzwang, die Selbstkontrolle stärken.

Aristoteles schreibt in seinem Werk „Politika“ (Vom Gemeinwesen), „daß das wichtigste Mittel zur Erhaltung der Verfassung … die Erziehung zur Verfassung ist. Denn auch die nützlichsten und von allen Staatsmännern einstimmig angenommenen Gesetze sind nutzlos, wenn die Staatsbürger nicht gewöhnt und im Sinne der Verfassung auferzogen sind … Ist der einzelne zügellos, so ist es auch der ganze Staat.“ (Aristoteles, Politika, 1310a)
Umgekehrt gibt es unbedingt die Aufgabe für die Eliten, Vorbild zu sein: „So wie in einem Gemeinwesen die Regierenden (sprich Eliten) beschaffen sind, so pflegen auch die übrigen Bürger zu sein.“ (Johan Skytte, der Lehrer Gustavs II. Adolf von Schweden). Und am Gymnasium noch viel mehr, denn hier werden Teile der Eliten und der Leute von Einfluß herangebildet.

Gerade in der Schule muß man lernen, sich mit Worten und Argumenten auseinanderzusetzen, den anderen zu akzeptieren, nicht obwohl er anders ist, sondern weil er anders ist, denn es gibt keine zwei identischen Menschen. Und wer wollte sich anmaßen, den einen für mehr wert zu halten als den anderen? (Nach Aristoteles wäre er jedenfalls kein Mensch …)

Wir befinden uns da in beruhigend guter Gesellschaft, ich will natürlich an die liberale Tradition dieses Gymnasiums erinnern, bewußt gegründet im Gegensatz zu den großen, eher konfessionell geprägten Schulen. Und letzten Endes sind es diese Ideen von freier Entfaltung der Persönlichkeit und des Liberalismus, von einem Leben in Würde, die Europa mit der Aufklärung, nein, schon mit der antiken griechischen Philosophie der Welt zum Geschenk gemacht hat. Gehen wir pfleglich damit um.

In diesem Sinne darf Ihnen zu Ihrem Abitur Glück wünschen und Ihnen alles wünschen, was Sie sich wünschen.

Literatur:
Thomas Hobbes, Leviathan
Aristoteles, Politika (Vom Staat)
Norbert Elias, Studien über die Deutschen

Helmut Brammer-Willenbrock

Quelle: EMA-Report 1999

 

Motto: „Die letzte Besatzung des Jahrhunderts geht von Bord.“

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